Ein schlesisches Schicksal
von Gotthard Sauermann
 
Vorwort
Denkt man an Schlesien, denkt man auch gleichzeitig an den II. Weltkrieg, denn er hat mit seinen weitreichenden Folgen unter anderem dazu geführt, dass zahlreiche Menschen ihre Heimat verloren haben. Das Los, die alte Heimat unfreiwillig zu verlassen, traf auch meine Familie.
 
Ich habe versucht, die Geschehnisse der damaligen Zeit, insbesondere die Ereignisse auf unserer Flucht, mit eigenen Worten zu beschreiben.
 
Wenn ich dies tat, dann nicht, um irgendeinen Haß gegen die Russen oder Polen zu schüren, sondern weil ich glaube, daß das, was ich in meiner Jugend erlebt habe, es wert ist, schriftlich festgehalten zu werden. Vielleicht lesen einmal meine Großkinder die kleine Geschichte, die ich wahrheitsgemäß geschildert habe.
 
Jedesmal an meinem Geburtstag muß ich an diese Zeit zurückdenken, denn dies war der Tag, an dem unsere Flucht aus der Heimat begann..
 
Eisdorf im Jahr 1983, bearbeitet unter Mithilfe von Klaus Dieter Schmidt
 
Wenn man Ereignisse schildern will, die man selbst erlebt hat, dann spielen dabei auch immer sowohl der Kreis der Menschen, in deren Mitte man aufgewachsen und mit denen man gelebt hat, als auch die Umgebung eine Rolle, in der sich viele der Erlebnisse zugetragen haben. Und so will auch ich etwas ausholen, um meine Geschichte für alle etwas anschaulicher und verständlicher zu machen.
 
Vor und während des II. Weltkriegs war Schlesien ein Land im Deutschen Reich, wie es heute beispielsweise Niedersachsen in der Bundesrepublik Deutschland ist. Es gehörte zu den deutschen Ostgebieten und war aufgeteilt in Ober- und Niederschlesien. Es macht heute den südlichen und südwestlichen Teil Polens aus.
 
Ich wurde am 24. Januar 1930 in Schönbrunn, Kreis Schweidnitz in Schlesien geboren. Meine Eltern bewirtschafteten dort einen Hof von 180 Morgen. Ursprünglich war der Hof eine Großbäckerei gewesen, die mein Urgroßvater auf grünem Rasen im vorigen Jahrhundert erbaut hatte. Es war ein großer Betrieb, denn nicht nur die Leute im eigenen Ort wurden mit Brot versorgt, sondern auch in die umliegenden Dörfer wurde seinerzeit mit Pferdegespannen Ware ausgeliefert. Und so waren in der Bäckerei noch sieben Gesellen beschäftigt. Man hielt es deshalb neben dem Bäckereigeschäft immer mehr mit der Landwirtschaft. Mein Urgroßvater und mein Großvater, die die Bäckerei und die Ländereien übernommen hatten, kauften nach und nach Land und sogar einen ganzen Hof mit Gebäuden.
 
Die Frau meines Großvaters verstarb sehr früh. Weil er nun mit sieben Kindern ganz allein war, gab er die Bäckerei auf und widmete sich nur noch der Landwirtschaft, die Jahre später von meinem Vater übernommen wurde. War es auch als Nachteil anzusehen, daß die einzelnen Gebäude weit auseinander lagen, so waren doch die Ländereien sehr gut und man konnte sagen, daß es sich um einen gutgehenden Betrieb handelte.
 
Als Adolf Hitler am 30.01.1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, konnte noch niemand erahnen, welches Schicksal uns Schlesiern daraus bevorstand. Nachdem der damalige Reichspräsident Paul von Hindenburg am 02.08.1934 verstarb. Wurde Hitler als „Führer und Reichskanzler“ Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches und die bald daraufhin einsetzende Aufrüstung Anfang des Jahres 1935, die durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, der Aufnahme des Baus von U-Booten und dem Aufbau einer Luftwaffe deutlich wurde, wurde auch bei uns spürbar.
 
Schweidnitz war eine Garnisonsstadt, und im Zuge der Aufrüstung wurde der Übungsplatz erheblich erweitert. Mein Vater war gezwungen, sehr viel Ackerland herzugehen und mußte deshalb nach einem geeigneten Hof Umschau halten.
 
Er fuhr mit Maklern umher, bis ihm ein Hof in Pampitz im Kreis Brieg gezeigt wurde. Es handelte sich um einen Betrieb mit 200 Morgen. Das gesamte Land lag ein Stück hinter dem Gebäudegrundstück. Die Vorbesitzer hatten oft gewechselt.
 
Da sie zwar wenig Kenntnis von der Landwirtschaft hatten, aber sehr viel Geld besaßen und dies in die Gebäude investiert worden war, befanden sich diese in einem guten Zustand; teilweise waren sie sogar neu. Es gab eine eigene Hauswasserversorgung, die in jeden Gebäudeteil Wasser drückte. Ferner waren ein Bad, eine verflieste Milchkammer, ein Tieflaufstall für Rinder (in den man bereits mit einem Wagen hineinfahren konnte) ein Düngeschuppen, ein Treckerschuppen mit Feldschmiede und ein Maschinenschuppen vorhanden, über den sich noch ein gedielter Getreidespeicher mit anschließendem Schrotgang und Haferquetsche befand. Selbst ein sogenannter Lochow-Stall für sieben Zuchtsauen, jeweils mit Auslauf, war vorhanden, ganz zu schweigen von den anderen Ställen (Pferde-Kuh- und Schweineställe). Zudem war nach ein Haus mit Stallungen für einen verheirateten Melker und für einen verheirateten Kutscher da. Kurzum, es fehlte an nichts. Der Betrieb wurde mit totem und lebendigem Inventar gekauft.
 
Das ehemalige Wohnhaus in Schönbrunn wurde an meinen Onkel Helmut Heiber verkauft. Er war der Schwager meines Vaters und so konnte mein Großvater mit seiner zweiten Frau dort wohnen bleiben. Weil später noch einmal die Rede davon sein wird, wäre noch zu erwähnen, daß aus der zweiten Ehe meines Großvaters noch eine Tochter namens Martha hervorging, also eine Halbschwester meines Vaters. Tante Martha heiratete später einen Erich Heiber, der ein Bruder von Helmut Heiber war. Zu guter Letzt waren es insgesamt drei Schwestern meines Vaters, die drei Heiber Brüder geheiratet hatten.
 
Erich Heiber war ein tüchtiger Inspector auf einem Gut in Eichdamm bei Breslau. Die übrigen Gebäude und noch gebliebenen Ländereien in Schönbrunn wurden gut verkauft und so ging der große Umzug am 10.10.1935 vonstatten. Schönbrunn, Kreis Schweidnitz, und Pampitz, Kreis Brieg, liegen ca. 80 km voneinander entfernt. Was nicht mit der Bahn verladen wurde, mußte mit den drei Gespannen transportiert werden. Die Gespanne brauchten für die Strecke drei Tage: einen Tag Hinfahrt, einen Tag Pause und einen Tag Rückfahrt.
 
Da mein Vater praktisch das tote und lebende lnventar doppelt besaß, konnte er das Beste behalten und das übrige noch verkaufen. Meine Mutter die eine geborene Seidel war, stammte aus Bögendorf, Kreis Schweidnitz. Auch sie kam von einem größeren Hof. Nun blieb natürlich unsere gesamte Verwandtschaft im Kreis Schweidnitz zurück. War dies auch anfangs eine große Umstellung für uns, so bot sie mir doch die Gelegenheit, in den Ferien nach Schönbrunn zu meinem Onkel Helmut Heiber zu fahren, der dort einen Gasthof besaß, und diese Gelegenheit nahm ich noch oft wahr. Es verging eine geraume Zeit, bis wir uns in der neuen Heimat eingelebt hatten. Am schnellsten, so glaube ich, ging es bei meiner fünf Jahre älteren Schwester und mir. Für mich kam dann 1936 der große Augenblick, als ich in die Volksschule eintreten durfte.
 
Der Ausbruch des II. Weltkriegs
 
Der II Weltkrieg begann am 01.09.1939 mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen. Im Alter von 9 Jahren kann ich mich noch gut darauf besinnen, wie der Polenfeldzug begann. In unserem Dorf befand sich bespanntes Militär, das die Pferde der Dorfbewohner gemustert hatte. Die für geeignet gehaltenen Pferde mußten abgegeben werden und auch wir, die wir nur Oldenburger Pferde besaßen, waren davon betroffen. So trat unsere 5 Jahre alte „Grete“ auch den Weg in den Krieg an. Zwischen unserem Dorf Pampitz und dem Nachbarort Hermsdorf war ein großer Flugplatz gebaut worden und so konnten wir später die Flugzeuge beobachten, die nach Polen flogen und dort ihre Bomben abwarfen. Dieser Flugplatz wurde im Krieg ebenfalls erweitert, so daß es einem Bauern in Pampitz namens Thomanek ebenso erging, wie es uns in Schönbrunn ergangen war. Auch er mußte seine alten Grundstücke aufgeben und kaufte sich im Kreis Neiße einen anderen großen Hof.
 
Schon bald kamen die ersten polnischen Gefangenen in unser Dorf. Tagsüber mußten sie auf den umliegenden Höfen arbeiten und abends wurden sie zurück in das Lager gebracht, das sich in der Nähe des Flugplatzes befand. Auch wir bekamen einen Gefangenen zugeteilt, Es war ein hübscher blonder Mensch, dem man es ansah, daß er schon bessere Zeiten gesehen hatte. Es stellte sich bald heraus, daß er bei einem polnischen General Fahrer gewesen war und ich glaube, es war für ihn bestimmt zu schwer landwirtschaftliche Arbeiten zu verrichten.
 
Die Gefangenen bekamen bei den Bauern, bei denen sie tätig sein mußten, ausreichend Verpflegung. Man muß überhaupt sagen, daß es noch sehr human zuging. Alle zwei bis drei Tage kam ein deutscher Offizier unangemeldet vorbei, um sich bei den Gefangenen nach Befinden und Essen, das dann sogar abgeschmeckt wurde, zu erkundigen. Doch schon bald wurden sie wieder abgezogen und wir bekamen zwei polnische Zivilarbeiter, die Arbeiten bei uns zu verrichten hatten. Sie hießen Anton und Rudolf und waren gute Leute. wie sich schon bald herausstellte.
 
Ab 1940 ging ich zur Mittelschule in Brieg, zu der ich jeden Tag 4,5 km mit dem Fahrrad fahren mußte. lm Winter nahm ich für die Tour einen Pferdeschlitten, vor dem unsere alte „Lotte“ angespannt wurde, die den Weg dorthin alleine kannte. Weil genug Platz auf dem Schlitten war, fuhren noch drei andere Kinder aus unserem Dorf mit. Die Fahrt ging bis zur Gastwirtschaft Hildebrand in der Langestraße. Dort spannte ein Mann namens Friedrich das Pferd aus, brachte es in den Stall und spannte es nach vereinbarter Zeit wieder ein, so daß wir gleich nach Beendigung des Unterrichts unsere Heimfahrt antreten konnten.
 
Bei einer dieser Schulfahrten ereignete sich ein Zwischenfall, der für uns vier böse hätte ausgehen können. Da auf der Straße zwischen dem Flugplatz und Brieg immer reger Busverkehr herrschte, wurde die Straße im Winter natürlich mit Schneepflügen gut geräumt, und so türmte sich links und rechts von der Straße der Schnee auf, der alsbald gefroren und hart geworden war. Wie wir eines morgens auf dem Weg zur Schule waren (es war natürlich noch dunkel), kam uns ein Bus entgegen. Geblendet von dessen Scheinwerfern fuhr ich wohl etwas zu weit nach rechts und so faßte die rechte Kufe in den Schneedamm. Der Schlitten kippte zur Fahrbahnseite um und meine Begleiter purzelten auf die Straße. Ich blieb mit einem Fuß hängen und rutschte neben dem Schlitten. Unsere alte „Lotte“ blieb aber bald stehen. Das größte Glück aber war, daß in dem Zeitpunkt, in dem der Schlitten kippte, der Bus bereits an uns vorüber war. Weiteres Glück im Unglück kam uns durch ein paar Arbeiter zuteil, die uns halfen, den Schlitten wieder aufzurichten. Wir suchten noch unsere sieben Sachen zusammen und setzten die Fahrt ohne weitere Schwierigkeiten fort.
 
Im gleichen Jahr kaufte mein Vater zusammen mit unserem Nachbarn Kache einen 25 PS starken Lanz Bulldog mit einem fünf Tonnen Hoffmann-Linke Anhänger. Dazu kamen noch ein 2-Schaar Sack-Pflug mit Schäleinsatz und ein sechs Fuß Lanz Zapfwellbinder. Da Krieg herrschte, bekam man den Traktor mit den Geräten nur, wenn eine bestimmte Morgenanzahl nachgewiesen werden konnte. Damit ist der Zusammenschluß mit unserem Nachbarn zu begründen. Der Stellmacher baute auf den Traktor noch ein Verdeck, daß sich später bei unserer Flucht gut bewähren sollte. Ein Jahr lang war der Traktor eisenbereift, bis wir auf Bezugsschein Gummireifen bekamen, was natürlich von Vorteil war. Ich selbst habe schon als Junge oft gebindert. Um allerdings die Kupplung des Traktors durchtreten zu können, mußte ich mir noch einen Klotz unter den Schuh binden.
 
Der Krieg rückt näher
 
Obwohl seit Kriegsausbruch schon vier Jahre vergangen waren und sich bereits zu diesem Zeitpunkt abzeichnete, daß den deutschen Truppen der Atem ausgehen würde, hatten wir noch nicht viel von den Kriegsereignissen bemerkt, sondern lebten in unserem Dorf noch wie im Frieden. Im Herbst 1943 kamen sehr viele Maschinen, vom Gummiwagen über Kartoffelsortiermaschinen bis zu Selbstbindern, die nagelneu und noch nicht zusammengebaut waren, aus dem Osten zurück. Ja. sogar eine Zugochsenherde war dabei. Alle Geräte und Tiere wurden auf dem ehemaligen Gut von Thomanek untergebracht, das mittlerweile staatlich geworden war. Die Bauern konnten sich Ochsen- und Gummiwagen ausleihen, da man ohnehin keine Verwendung für sie hatte. So liehen sich unser Nachbar Kache und mein Vater noch drei Gummiwagen aus. Insgesamt waren nun vier Wagen vorhanden, die auch benötigt wurden, um Rüben nach Brieg in die Zuckerfabrik Neugebauer zu fahren.
 
Zu dieser Zeit kamen die ersten Düsenflugzeuge in unsere Region und die Startbahn des Flugplatzes mußte erheblich verlängert werden. Dem Flugplatz war neben dem russischen Gefangenenlager inzwischen auch ein KZ-Lager angeschlossen. Die Gefangenen mußten schwer arbeiten und die umliegenden Bauern, die einen Traktor besaßen, wurden verpflichtet, Spanndienste zu leisten. Als 14jähriger Junge bin ich selbst einmal gefahren; nach dem Führerschein wurde zu der Zeit nicht gefragt. Obwohl ich ein strammer Hitlerjunge war, taten mir die Inhaftierten des KZ doch sehr leid. Wir mußten Zementröhren fahren und sie auf und abladen. Die Gefangenen mußten sie verlegen. Es handelte sich um fünf Gefangene, die von einer Person bewacht wurden. Zum Glück waren die Bewacher keine SS-Männer, sondern von der Luftwaffe abgestellte Soldaten, die nicht so streng waren. Ich kam mit den Gefangenen ins Gespräch, in dessen Verlauf sich herausstellte, daß es Leute vom polnischen Rundfunk waren. Ich gab ihnen etwas von meinem Brot ab, das mir meine Mutter eingepackt hatte, wofür sie sehr dankbar waren.
 
Mitte 1944 bekamen wir auf unserem Hof Flüchtlinge aus der Batstka in Ungarn einquartiert. Es waren alles Bauern, deren Vorfahren vor ein paar hundert Jahren nach Ungarn ausgewandert waren. Sie hatten wunderbar leichte Pferde, die sehr spritzig waren. Der Mann, der bei uns untergebrachten Familie, wurde zu der SS eingezogen und im KZ Auschwitz als Bewacher eingesetzt. Als er einmal auf Urlaub zu seiner Frau kam, berichtete er von den Dingen, die sich dort abspielten, obwohl auch er der absoluten Schweigepflicht unterlag. Wir alle konnten und wollten das nicht glauben. Doch leider erwies sich das alles später als Wahrheit.
 
Das letzte Aufgebot
 
Wir hatten schon immer ausgebombte Kölner Familien bei uns untergebracht, doch hatten wir deren geschilderte Erlebnisse, bezogen auf unsere Region, keine besondere Bedeutung geschenkt. Aber man merkte jetzt doch, daß irgend etwas auch auf uns zukam. Wir Pimpfe mußten samstags und sonntags Panzergräben von 4 Meter Breite und 2,5 Meter Tiefe an der polnischen Grenze ausschachten. Die Mittelschule in Brieg war als Lazaret umfunktioniert worden. Der Unterricht für uns fand nun in der Volksschule in der Lindenstraße statt. Doch schon bald mußten wir auch diese Schule räumen; der Unterricht wurde in einem apostolischen Kirchenraum abgehalten, in dem wir gar nicht schreiben konnten, weil keine richtigen Tische dort vorhanden waren.
 
Im November 1944 wurden wir 14jährigen Jungen zu einem Wehrdienstlehrgang in der Zieten-Kaserne in Brieg einberufen. Wir wurden in Geländeanzüge gesteckt und an Panzerfaust, MG 35, Karabiner 98, Pistole U8 und 38 und im Werfen von Handgranaten ausgebildet. Die Ausbilder waren zumeist verwundete Soldaten. Der Lehrgang dauerte 14 Tage und im Anschluß daran wurde er mit anderen Jungen erneut durchgeführt. Diejenigen, die die Ausbildung im Januar l945 zu absolvieren hatten, wurden in Brieg von den russischen Truppen mit eingeschlossen und so zählten 14jährige Jungen aus unserem Nachbardorf damals mit zu den Gefallenen.
 
Weihnachten 1944 kam, und wenn seinerzeit jemand zu uns gesagt hätte, daß ich in zwei Jahren das Fest ganz allein unter wildfremden Menschen in unserem Haus feiern würde, ich hätte es ihm nicht geglaubt. Wegen Heizungsmangel wurden die Schulen geschlossen. Am Silvesterabend 1944/45 kam schon keine richtige Stimmung auf und als am 12.01.1945 russische Truppen begannen, an Oder und Weichsel vorzudringen, hörten wir das erste Donnern der Geschütze, das uns an den Kriegsbeginn 1939 erinnerte, als unsere Flieger Krakau bombardiert hatten.
 
Als letzte Mobilisierung war am 25. September 1944 damit begonnen wurden, den „Volkssturm“ aufzustellen. Alle Männer, die zu alt für den Kriegsdienst, aber dennoch einigermaßen tauglich waren, mußten sich hierfür melden. Sie wurden sowohl für den Zivilschutz, als auch für den Frontdienst eingesetzt. Auch mein Vater hatte sich zu melden. Zur gleichen Zeit wurde eine Treck- und Wagenabteilung für den Fall vorgenommen, daß wir unser Gebiet zu verlassen hätten. Doch so richtig ernst wurde die Angelegenheit nicht genommen, denn man glaubte noch immer, daß der Russe auf seinem Vormarsch an der Oder zum Halten kommen würde.
 
Fluchtvorbereitungen
 
Wegen der herrschenden Bombengefahr in Breslau waren Jungen und Mädchen einer dortigen Schule auf die Dörfer verteilt worden. Herbert Schimmel, der ein Jahr jünger war als ich, war uns zugeteilt worden. Unsere Lage war ungewiß weil niemand absehen konnte, wie sich die Ereignisse weiterentwickeln würden. Die russischen Truppen waren weiter auf dem Vormarsch. Würden sie tatsächlich an der Oder halten müssen oder noch weiter nach Westen vordringen? Konnten unsere Truppen sie vielleicht noch zurückdrängen? Von Tag zu Tag wurde die Ungewißheit größer und so entschlossen sich meine Eltern, vorsichtshalber etwas von unserem Hab und Gut nach Schweidnitz zu schaffen, wo wir ja noch Verwandte hatten, und das immerhin 80 km weiter westwärts lag.
 
Mein Vater hatte zwei Jahre zuvor einen Pferdeschlitten vom Staat gekauft. Dieser Schlitten war so glaube ich jedenfalls, eigentlich für den Rußlandfeldzug gebaut worden. Er hatte aber, wie sich später herausstellte, ein viel zu hohes Gewicht. Die gesamte Produktion war für die Armee nutzlos und mithin zum Verkauf angeboten worden. Der Schlitten hatte vorn drei Sitzplätze. Durch das Herunterklappen der Seitenteile des hinten aufgebauten Kastens konnten dort noch weitere Sitzmöglichkeiten geschaffen werden. Mein Vater schlachtete noch ein Schwein, das er mit einer P08 aus dem l. Weltkrieg erschossen hatte. Er besaß daneben noch eine kleine Pistole, eine Mauser 6,35 und einige Jagdwaffen. (Eine Schrot- und eine Bockflinte, ein 5-Schuß-Jagdgewehr und ein 6-mm-Kleinkaliebergewehr) Die Waffen seien deshalb erwähnt, weil von ihnen im Verlauf meiner Erzählung noch die Rede sein wird.
 
Der bei uns untergebrachte Batschkaner verstand etwas vom Schlachten und bereitete das Schwein zu. Er stellte uns auch seine Pferde zur Verfügung, denn wir hatten drei junge Pferde inzwischen der Wehrmacht abtreten müssen und die uns verbliebenen Tiere zählten nicht mehr zu den jüngsten. Meine Eltern hatten allerlei wertvolle Sachen in eine Truhe und einen Koffer gepackt, die auf dem Schlitten verstaut wurden. Daneben nahmen wir noch Futter für die Pferde mit. Wir hatten geplant auf dem Weg eine Pause einzulegen und abends bei Heides in Bögendorf, Kreis Schweidnitz, anzukommen. Martha Heide war eine Schwester meiner Mutter und wohnte auf einem Hof, der schon 500 Jahre im Familienbesitz war.
 
Es war Samstag der 20.01.1945, als wir um 7 Uhr morgens starteten. Es war tiefster Winter, die Straßen waren voll mit Schnee bedeckt und es herrschten ungefähr 15° Kälte. Wir waren zu dritt: meine Mutter, der Breslauer Junge und ich, der den Schlitten fuhr. Frau Schimmel hatte ihrem Sohn aus Breslau geschrieben, er solle zu seinen Großeltern nach Zobten fahren, da es in Breslau zu unsicher sei. So hatten wir ihn mitgenommen, da Zobten auf unserem Weg lag. Wir fuhren über Wansen, Strehlen und Heidersdorf in Richtung Schweidnitz. In Heidersdorf verabschiedete sich Herbert und fuhr weiter zu seinen Großeltern. Wir haben danach nie wieder etwas von ihm gehört.
 
Als wir dort unsere Mittagspause beendet hatten, fuhr ich mit meiner Mutter weiter. Die Fahrt verlief relativ gut, obwohl die letzten Berge vor Schweidnitz einige Probleme machten. Hier war der Schnee bald weggefahren und der Schlitten wurde für die Pferde schwerer. Sie ließen ohnehin langsam nach, denn eine so große Tour waren auch sie nicht gewohnt. Doch wir schafften es bis zum Abend und kamen um 19:00 Uhr bei meiner Tante an. Die Freude war groß, aber auch die Angst saß in uns. Meine Tante servierte uns zunächst einen Punsch zur Erwärmung. Nach dem Abendessen wurde noch lange erzählt bis wir zu Bett gingen.
 
Der nächste Tag war ein Sonntag und auch für uns und besonders für die Pferde Ruhetag, da es am Montag wieder zurückgehen mußte. Viel Ruhe hatten wir allerdings nicht, denn im Rundfunk hörte man nicht gerade die besten Nachrichten. Doch wir wollten und mußten wieder zurück, und so ging es am Montag den 22.01.1945 um 7:00 Uhr wieder Richtung Osten. Bis zum Mittag hatten wir Heidersdorf erreicht, wo wir wie bereits zwei Tage zuvor, Rast machten. Bis dahin war alles problemlos gegangen, doch nun mußten wir gegen einen kalten Ostwind fahren. Glücklicherweise hatten wir gute Pelzfußsäcke und -decken dabei, die uns ein wenig wärmten.
 
Je näher wir unserer Heimat kamen, merkten wir, daß wir nicht nur gegen den Ostwind fuhren, sondern auch gegen den Strom schwammen. Wir fuhren ganz rechts des Weges. Auf der anderen Seite kamen uns zahlreiche Bewohner der umliegenden Dörfer entgegen und in der Mitte fuhr die Wehrmacht. Mehrmals mußten wir dem Treck ausweichen und kamen dabei auf das angrenzende Land, wobei der Schlitten sehr tief einsank. Ich hatte immer Angst, daß uns dabei die Deichsel abbrechen würde. Auf den Wagen, die uns entgegenkamen, waren die Ortsnamen Schreibendorf, Scheidelwitz und Groß Neudorf zu lesen. Unter den Fahrenden waren auch Bekannte, die uns für verrückt erklärten, daß wir nach Hause wollten, wodurch wir sehr beunruhigt waren. Es war schon dunkel, als wir dem Oberamtmann Raabe begegneten, mit dem mein Vater gut befreundet war und der die Zivilverwaltung des Flugplatzes leitete. Er kam mit seinen ganzen Mitarbeitern auf einigen Lastwagen daher und erklärte uns, daß der Russe nicht mehr weit von der Oder sein könne und der Flugplatz deshalb schon geräumt sei.
 
Immer mehr verstopften sich die Straßen durch Menschen und Wagen. Das Fahren wurde schwieriger. Bald kamen uns die Inhaftierten des nahe des Flugplatzes gelegenen KZ entgegen. Die armen und entkräfteten Leute mußten ihre Wagen und Schlitten allein ziehen oder schieben. Je näher wir der Front entgegen fuhren, konnten wir im Dunkeln das Blitzen der Geschütze am Horizont sehen und das gewaltige Donnern der Kanonen hören. Als wir endlich Laugwitz erreicht hatten, mußten wir noch ca. zwei bis drei km parallel zum Flugplatz entlangfahren. Wir trauten unseren Augen nicht, als wir sahen, daß die Russen von der anderen Seite der Oder unseren Flugplatz beschossen.
 
Unser Weg mündete nach der Kirche in unserem Ort. Wir bogen rechts ab und nach ungefähr 400 Metern hatten wir unseren Hof erreicht. Es war 22:00 Uhr. 15 Stunden waren wir unterwegs gewesen, und sowohl die Pferde, als auch wir, waren völlig erschöpft. Mein Vater hatte sich natürlich große Sorgen gemacht, denn er hatte das Chaos gesehen, das sich auf den Straßen abgespielt hatte. Er hatte immer versucht, uns telefonisch in Bögendorf zu erreichen, um uns anzuraten, dort zu bleiben. Er war jedoch nicht durchgekommen. Das Donnern der russischen Geschütze war immer noch zu hören, doch für meine Mutter und mich war es jetzt nur wichtig, heil zu Hause angekommen zu sein. Pampitz hatte sich in den drei Tagen unserer Abwesenheit völlig verändert. Im ganzen Dorf waren lettische SS-Soldaten einquartiert Die zur Verfügung stehenden Wagen waren schon fluchtmäßig hergerichtet worden. So hatte man Weidenäste an die Flanken genagelt und an den Enden zusammengebunden, worüber Teppiche oder Planen gelegt wurden, die zumindest etwas Schutz vor dem zu erwartenden kalten Wind bieten sollten.
 
Neben den bereits erwähnten Polen, die bei uns arbeiteten, hatten wir im Verlaufe des Krieges noch einen „Zivilrussen“, drei russische und eine polnische Arbeitskraft zugewiesen bekommen. Der Russe namens Micha mußte am Dienstag, den 23.01.1945 eines unserer Gespanne nach Brieg fahren, das wir an die Stadt für den Stadttreck abzustellen hatten. Dort gab es natürlich nicht genügend Wagen, so daß die Bauern aus den umliegenden Orten Gespanne abzugeben hatten. Wie sich später herausstellte, fuhren bei Micha neben anderen Leuten ein Studienrat mit seiner Familie mit. Unser Gespann sollten wir erst nach dem Umsturz wiedersehen.
 
Unsere Treckeinteilung war so organisiert, daß die Pferdegespanne und die Traktoren für sich fuhren. Uns standen u.a. unser Pferdegespann, der Bulldog mit einem Gummiwagen und der 25-PS-Bulldog mit zwei Gummiwagen vom Landwirt Sauer, der auch in Pampitz wohnte, zur Verfügung. Unser Pferdegespann nahm die Kutscherfamilie Preusner auf. Der Mann von Frau Preusner war zur Wehrmacht eingezogen, und so fuhr unser Pole Anton das Gespann. Auf unserem Gummiwagen fuhr unsere Familie mit Ausnahme meines Vaters, der beim Volkssturm bleiben mußte und Familie Kache, wobei auch Herr Kache zurückblieb, da er als Bürgermeister den Pferdetreck führen sollte. Unser Pole Rudolf war dafür vorgesehen, den Traktor zu fahren. Der Traktor von Sauers sollte von einem Ukrainer namens Josef gefahren werden. Die beiden Wagen waren nur mit Koffern und anderen Utensilien von Dorfbewohnern beladen, die entweder bereits mit der Eisenbahn gefahren waren oder aber beim Pferdetreck blieben. Meine Schwester und mein Vater hatten die Wagen während der drei Tage unserer Abwesenheit bereits beladen, da sich die Lage unheimlich zugespitzt hatte.
 
Es herrschte große Unruhe im Dorf, denn jeder wartete auf den Befehl zum Abrücken. Neben meinem Vater gehörten noch weitere sieben Männer dem Volkssturm an, die zusammen zurückblieben und auch dafür sorgen mußten, daß das verbleibende Vieh von den Ausländern gefüttert wurde. Zurückbleiben mußten auch die ausländischen Mädchen, also auch die uns zugeteilte Polin und die Russinnen. Die lettische SS war bereits vorher weiter gerückt. So wie sich unser Dorf nun darstellte, hatte es etwas Unheimliches an sich. Die Traktoren waren fahrbereit und die Wagen bepackt. Diejenigen, die nicht mit durften, insbesondere die ausländischen Mädchen, weinten oder waren voller Sorge, weil sie von ihren Familien getrennt wurden und nicht wußten wann man sich wiedersehen konnte und was die Zukunft bringen würde. Diejenigen, die die Fahrt antreten mußten, befiel Schwermut, da sie Heim und Hof verlassen mußten.
 
Gegen 15:00 Uhr kam der Befehl zum Abrücken. Doch sehr bald sah man davon ab, denn es lag viel Schnee und es herrschten 15° Kälte. Ehe alle Pferde angespannt gewesen wären, hätte die Nacht Einzug gehalten. So beschloß man, am nächsten Morgen um 6:00 Uhr die Fahrt anzutreten. Dadurch konnten wir noch eine Nacht in der gewohnten Umgebung verbleiben, doch sie war sehr unruhig, denn die Russen hatten Brieg unter schweren Beschuß genommen. Abends waren wir noch einmal in die Scheune gegangen, wo noch der gesamte Dreschsatz stand, wir hatten noch eine Woche zuvor gedroschen, und von dort aus konnten wir sehen, daß Brieg lichterloh brannte. Nur gut, daß die Oderbrücke gesprengt worden war und der Russe dadurch in seinem Vormarsch aufgehalten wurde.
 
Flucht nach Bögendorf
 
Am Morgen des 24. Januar um 6 Uhr war alles fertig zum Abmarsch. Die Traktoren fuhren vorweg, da sie gar nicht so langsam fahren konnten, wie die Pferde die Wagen zogen. Wieder ging es Richtung Bögendorf. Die gleiche Route sollte auch der Pferdetreck nehmen, damit wir uns in den Bergen durch Vorspannen gegenseitig helfen konnten. Es sollte nicht lange dauern, bis sich herausstellte, daß diese Vorgehensweise ein weiser Entschluß war. Unsere Wagen waren gut mit Planen und Teppichen verkleidet, so daß man die Kälte nicht so sehr merkte. Ich saß dick vermummt vorne auf dem Trecker, da ich unserem Polen den Weg angeben mußte, denn wir führten den Treck an. Bis auf einige Verstopfungen auf den Straßen ging es zunächst gut voran. Die kurzen Pausen nutzte ich dazu, mich ein wenig warmzulaufen. Kurz vor Schweidnitz traten dann die ersten Schwierigkeiten auf. Die Traktoren schafften es nicht allein, die Berge hochzukommen und so mußte jeder Wagen mit zwei Traktoren hochgezogen werden. Es ging dann weiter nach Schönbrunn. wo ja noch viele Verwandte und Bekannte von uns lebten und meines Vaters Stiefmutter noch in unserem ehemaligen Hause wohnte. Es war später Nachmittag, als wir dort ankamen. Hier nahmen wir zunächst die Möglichkeit wahr, Teile des Schweines, das mein Vater Tage zuvor noch geschlachtet hatte, zu räuchern.
 
Aus der Ehe meines Großvaters mit seiner zweiten Ehefrau war noch eine Tochter hervorgegangen, die in Eichdamm, Kreis Kant bei Breslau, wohnte. Noch bevor wir alle unsere Sachen ausgepackt hatten, kam die Nachricht, daß auch die Eichdammer flüchten mußten. Und da meine Tante gerade schwanger war, wollte sie natürlich zu ihrer Mutter. So mußten wir den Platz räumen und zogen weiter nach Bögendorf, das zwei Kilometer von Schönbrunn entfernt war.
 
Es war der 27.01.1945. Von meinem Vater und den anderen Männern des Volkssturmes hatten wir bislang noch nichts gehört. In Bögendorf wohnten die Schwester und Schwägerin meiner Mutter. Ebenso wie in Schönbrunn war auch hier der Hof sehr groß und, so fand man für uns noch Platz, obwohl auch dort schon andere Flüchtlinge aufgenommen worden waren.
 
Unser Zug war der erste in Bögendorf doch bald kam auch der Pferdetreck nach, der etwas länger gebraucht hatte, weil die Straßen mehr und mehr verstopft waren. Sie machten ebenfalls in Bögendorf halt, ließen sich und den Pferden einen Tag Ruhe und fuhren dann in Richtung Görlitz weiter. Auch sie hatten von unseren Leuten daheim nichts gehört. In diesen Tagen kam auch mein Onkel Heiber mit seinen ganzen Gutsarbeitern nach Schönbrunn, denn Kant war immer mehr in Frontnähe gerückt. Unsere Sorgen um meinen Vater wuchsen natürlich aufgrund der immer weiter westwärts ziehenden Front.
 
Eines Tages beschloß ich, meinen Vetter Werner Seidel zu besuchen, der in Weistritz eine Landwirtschaftslehre absolvierte. Ich fuhr mit dem Rad auf einer Straße entlang, die oberhalb von Schweidnitz verlief, als ich das Brummen von Flugzeugen hörte. Alsbald gingen auch die Sirenen in Schweidnitz los. Es waren sechs russische Bomber, die ohne jegliche Gegenwehr Schweidnitz bombardieren konnten. Ich hatte mich in ein Gebüsch verkrochen, von wo ich alles gut einsehen konnte, zumal die Flugzeuge nicht allzu hoch flogen. Mir war die Lust an dem Besuch vergangen, und so kehrte ich wieder um und radelte zurück zu meinen Leuten.
 
Es war der 08. oder der 09. Februar, als abends plötzlich mein Vater mit den anderen Männern bei uns eintraf. Die Freude war natürlich groß, und wir hatten uns gegenseitig viel zu erzählen. Während die anderen am nächsten Tag zu ihren Familien nach Görlitz weiterzogen, blieb mein Vater in Bögendorf. Er erzählte, daß sich in der alten Windmühle unseres Ortes, die nicht mehr in Betrieb war, Artilleriebeobachter verschanzt hatten. Die Soldaten hätten sich immer etwas zu Essen geholt wovon auch genügend vorhanden war, denn zu Hause hatten sie noch ein Schwein geschlachtet die ausländischen Mädchen hatten gebuttert und sogar selber Brot gebacken. Sie mußten gelebt haben, wie die Finken im Hanf.
 
Er berichtete weiter, daß er die Soldaten gebeten hatte, ihm mitzuteilen, wenn sie verschwinden würden. Doch eines Tages kamen sie nicht mehr vorbei, um sich Verpflegung abzuholen. Als mein Vater nachsah, wo sie geblieben waren, stellte er fest, daß der Russe bereits von Laugwitz, also von Westen her kam. Er alarmierte die anderen Männer und sie setzten sich mit Fahrrädern nach Süden Richtung Neiße, ab. Sie mußten diesen Bogen machen, da sie ansonsten von den Russen abgeschnitten worden wären. Später stellte sich heraus, daß der Russe weiter westlich bei Linden über die Oder gestoßen war, da ja die Oderbrücke in Brieg gesprengt worden war. Er muß dabei sehr hohe Verluste erlitten haben, denn in Linden ist für die Gefallenen ein großes Ehrenmal erbaut worden.
 
Die nächsten Tage in Bögendorf verliefen ruhig, man hätte es die Ruhe vor dem Sturm nennen können. Einige hielten dies für ein Anzeichen dafür, daß sich die Lage etwas entspannt hätte. So bedrängten die Gutsleute meinen Onkel Heiber, wieder nach Eichdamm zurückzufahren. Er gab dem Drängen seiner Arbeiter nach, ließ jedoch seine Frau bei meiner Großmutter in Schönbrunn zurück. Wie wir erst später erfahren sollten, war die Entscheidung, auf das Gut zurückzukehren, ein schwerwiegender Fehler. Gerade zu dem Zeitpunkt, als mein Onkel mit seinen Leuten auf dem Gut angekommen war und sie begannen, die Wagen abzuladen, starteten die Russen die nächste größere Offensive. Sie alle wurden davon völlig überrascht. Was mit den Arbeitern geschah, habe ich nicht erfahren. Meinen Onkel jedoch hatte man sofort in den naheliegenden Park geführt und ihn dort erschossen.
 
Weiter über die Tschechoslowakei nach Hennersdorf
 
Der Anfang des Jahres 1945 war gekennzeichnet durch die große Flüchtlingswelle von Osten nach Westen. Rund 2 Millionen Flüchtlinge und Soldaten wurden in dieser Zeit nach Westen transportiert. Wir hatten noch das Glück, bei meiner Tante Friedel Seidel auf dem großen Hof in Bögendorf, von dem meine Mutter stammte, ein gutes Quartier gefunden zu haben. Doch lange sollte dies für uns keine Bleibe mehr sein.
 
Da mein Onkel eingezogen worden war, hatte man einen jungen Verwalter mit Familiennamen Werner eingestellt, der im Krieg bereits ein Bein verloren hatte. Er stammte von einem Hof in Hennersdorf, Kreis Deutsch Gabel, Sudetenland, und bot uns immer an, dort hinzugehen, wenn wir Bögendorf verlassen müßten. Inzwischen war meine Tante Else mit Mutter und Sohn angekommen. Der Sohn hatte als Folge einer Verwundung ein steifes Knie. Sie waren aus Breslau kommend hier gelandet. Da es nun sehr eng wurde, baten wir den Bürgermeister von Bögendorf um Treckerlaubnis, damit wir weiterfahren konnten. Am nächsten Tag mußten wir feststellen, daß der Ukrainer Josef, der Sauers Traktor bis hierher gefahren hatte, verschwunden war. Niemand wußte wohin und warum er gegangen war, und da wir nie wieder etwas von ihm hörten, haben wir es auch nie erfahren.
 
Wir bekamen die Treckerlaubnis bis Großheim, Kreis Waldenburg. Am 18. Februar ging die Fahrt los, auf die wir noch die Eltern meiner Mutter mitnahmen, die beide schon über 70 Jahre alt waren. Da nun ein Fahrer fehlte, steuerte unser Pole Rudolf Sauers Traktor und ich fuhr unseren. Die Fahrt nach Großheim, das noch hinter der Kreisstadt Waldenburg lag, verlief mit vielen Hindernissen. Mehrmals mußten wir einen zweiten Trecker vor den anderen hängen. Doch auch dieses Ziel wurde erreicht. Meine Familie und die Großeltern nebst Rudolf fanden Quartier in einer Gastwirtschaft auf der Bismarkhöhe bei einer Familie Ventur. Frau Kache und ihre Tochter kamen bei einer Bergwerksfamilie namens John unter. Wir hatten allerdings keine Möglichkeit, unsere Wagen und Zugmaschinen sicher abzustellen. So mußten wir sie auf einen Platz an der Hauptstraße nach Friedland stehen lassen. Mein Vater besorgte die notwendigen Umeldeformalitäten und wieder blieb uns nichts anderes übrig als zu warten, was die nächsten Tage bringen würden.
 
Da die Straße, an der wir unsere Fahrzeuge abgestellt hatten, stark befahren war, mußten wir abwechselnd Tag und Nacht Wache halten. Nach wie vor kamen zahlreiche Trecks und im ganz Besonderen die sogenannten Hifis vorbei. Hifis waren Russen in deutscher Uniform, die mit Panjewagen Munition und Gerät an die Front brachten. Allerdings fuhren sie nur nachts. Heute noch höre ich die slawischen Klagelieder, die sie dabei sangen, wenn ich an diese Zeit zurückdenke.
 
Wenn es notwendig wurde und die Zeit es erlaubte, fuhren meine Schwester und ich mit dem Rad nach Bögendorf um von meiner Tante oder meinem Onkel Gustav, der ein Bruder meines Vaters war, Verpflegung zu holen. Als wir eines Tages auf dem Weg zu unserem Onkel waren, tauchten am Himmel plötzlich zwei Flugzeuge auf. Es handelte sich dabei um eine deutsche Me 109, die ein russisches Flugzeug verfolgte. Da dabei geschossen wurde, suchten wir sofort Deckung, und dann krachte es auch schon. Der Russe mußte einen Bombennotwurf gemacht haben. Die Bombe war dabei genau in den Vorgarten meines Onkels gefallen. Hätten meine Schwester und ich nicht sofort Deckung genommen, sondern wären weiter gefahren, so hätten wir zum Zeitpunkt des Aufschlags den Bombentrichter gerade erreicht. In solchen Zeiten brauchte man auch manchmal Glück und das hatten wir seinerzeit.
 
Mein Onkel packte uns alles Mögliche ein und wir machten uns auf den Heimweg. Die Lage verschlechterte sich immer mehr und so mußten sich bald die Bögendorfer aufmachen und ihren Hof verlassen. Meine Tante kam auf ihrem ersten Weg bis nach Trautenau, das nicht weit von Großheim entfernt war. Als sich eines Tages Langeweile breit machte, beschloß ich, meine Tante mit unserem Polen Rudolf zusammen zu besuchen. Wir besorgten uns zwei Fahrräder und hatten unser Ziel auch bald erreicht. Meine Tante berichtete von ihrer Absicht, nach Hennersdorf weiter- zufahren wo ihr junger Verwalter herkam. War die Fahrt nach Trautenau diesmal ohne Zwischenfall verlaufen, so ereignete sich auf der Rückfahrt eine beinah folgenschwere Begebenheit. Wir wurden von einer SS-Streife kontrolliert und obwohl wir uns ausweisen konnten, glaubten sie dem Rudolf nicht, wohl aufgrund seiner guten deutschen Aussprache, daß er Pole sei. Sie vermuteten wahrscheinlich, daß es sich bei ihm um einen Deserteur handeln würde und nahmen ihn mit sich. Ich machte mich eiligst auf den Weg zu meinen Eltern, um ihnen den Vorfall zu schildern. Mein Vater begab sich am nächsten Morgen gleich zur Kreisleitung, wo er alles richtig stellen wollte. Er fand auch Gehör und am Abend des selben Tages kam Rudolf freudestrahlend wieder angeradelt.
 
Einige Zeit später schrieb uns meine Tante, daß sie am 01. März nach Hennersdorf fahren würde und riet uns, ihr nachzukommen. Wir beschlossen, einige Tage später zu fahren, da meine Tante ohnehin per Pferdegespann, sie hatte ein schönes Schimmelgespann, unterwegs war. Es war wohl der 05. März, als wir nach erhaltener Treckerlaubnis Großheim verließen und über Friedland und Trautenau bis nach Jitschin fuhren. Auch diese Fahrt verlief nicht problemlos, ja sie hätte beinahe ein tödliches Ende gefunden. Wir wurden unterwegs von russischen Fliegern angegriffen, die uns dabei ein Kühlelement am Lanz zerschossen. Zum großen Glück wurde keiner von uns getroffen und auch unserer Weiterfahrt tat dies keinen Abbruch, da der Lanz über vier Kühlelemente an jeder Seite verfügte und wir das beschädigte Element nur verstopfen brauchten.
 
Jitschin war ein kleines Städtchen in der Tschechoslowakei, das mit Flüchtlingen geradezu vollgestopft war. Wir mußten deshalb so weit südlich fahren, damit wir aus den gefährlichen Berggebieten herauskamen. Es war abends und bereits dunkel, als wir ankamen. Die Tschechen waren uns Flüchtlingen nicht gerade wohl gesonnen. Die Nacht mußten wir in einem großen Saal verbringen, der voll von Flüchtlingen war. Als Nachtlager diente uns Stroh, was sehr schlecht für meine Großeltern war, insbesondere für meinen Großvater, der an einem Prostataleiden litt. Mein Vater. Der Pole und ich schliefen so gut es ging auf je einem Wagen. Am nächsten Morgen machten wir uns gleich wieder auf und erreichten noch am gleichen Tag Hennersdorf. Meine Tante war bereits dort und bei den Werners untergekommen, die einen Hof von ca. 120 Morgen hatten. Die Breslauer, die zusammen mit meiner Tante gekommen waren, wohnten bei Verwandten der Werners. Bei weiteren Verwandten, die einen kleineren Hof hatten, wurden wir untergebracht auch meine Großeltern fanden dort ein schönes Zimmer. So hatten wir alle eine gute Bleibe gefunden, hier im Sudetenland, über dessen Schönheit und Sauberkeit wir staunten.
 
Die Bauern in dieser Gegend bauen bereits damals elektrische Weidezäune mit Netzanschlüssen, was wir in Schlesien noch nicht gekannt hatten. Zusammen mit zwei weiteren Höfen war der Hof, auf dem wir Unterkunft gefunden hatten, zwischen der Hauptstraße und einer höher, aber parallel dazu verlaufenden Straße gebaut. So hatte man die Möglichkeit, mit dem Heuwagen vom Berg aus auf den Heuboden zu fahren, so daß das Heu nur noch nach rechts und links abgeworfen werden brauchte. Unsere Gastgeber hießen ebenfalls Werner. Der Hausherr war Soldat, und so wurde der Hof nur von seiner Frau, den zwei kleinen Söhnen und den zwei Omas bewohnt. Vom Hof aus hatte man einen schönen Blick über das ganze Dorf. Es lag nicht weit von einem Wald entfernt. Wir halfen der Familie beim Holzhacken und bald kam ja auch die Frühjahrsbestellung, bei der wir ebenfalls Hand anlegten.
 
In unserem Fluchtgepäck befanden sich auch die bereits erwähnten Waffen meines Vaters, der sehr besorgt darüber war, daß sie einmal entdeckt werden könnten. So hatte er mir gegenüber bereits mehrmals erwähnt, sie verschwinden lassen zu wollen. Nur, sie einfach wegzuwerfen, kam uns natürlich nicht in den Sinn. Als unser Pole einmal allein auf dem Feld war, versteckten wir die beiden Pistolen in dem Schlüsselkasten unseres Anhängers, der sich unter dem Sitz befand. Wir legten sie zusammen mit der Munition an die linke Außenwand des Kastens und nagelten noch ein Brett davor, das wir mit grauer Farbe anstrichen. Die Tarnung schien uns gelungen. Die Jagdgewehre, die in Decken eingewickelt waren, ließen wir auf dem Wagen liegen, auch wenn unser Pole wußte, daß sie dort zu finden waren.
 
Es war eine relativ ruhige Zeit im Frühjahr 1945. Nicht weit von Hennersdorf lag Hammer am See, wo der Reichsmarschall Göring seine Villa hatte. Auf dem ebenfalls in der Nähe liegenden Feldflugplatz Niemes lag Oberst Rudel mit seinen Soldaten und einem Stukageschwader. Mit unseren Traktoren wurden wir des öfteren zum Milchfahren eingesetzt, wobei wir auch den Flugplatz, anfahren mußten. So konnten wir die Stukas beobachten, wenn sie zum Kampf nach Schlesien starteten. Daneben halfen wir noch beim Pflanzen der Kartoffeln oder vertrieben uns die Zeit damit, vor einer Gastwirtschaft an der Hauptstraße zu sitzen und einem alten lnspektor aus Schlesien, der ein richtiger alter Haudegen war, beim Erzählen seiner Geschichten zuzuhören. Der April ging so sehr schnell vorbei. Der Mai kam und mit ihm immer mehr Unruhe in unsere Umgebung.
 
Bedingungslose Kapitulation
 
Es hatte sich in den letzten Wochen einiges ereignet, von dem wir allerdings nur sehr wenig mitbekommen hatten. Russische Truppen hatten zunächst Wien besetzt und dann Berlin erobert. Sie waren mit amerikanischen Truppen bei Torgau an der Elbe zusammengetroffen. Hitler hatte am 30. April 1945 Selbstmord begangen und Großadmiral Dönitz hatte eine geschäftsführende Reichsregierung gebildet. Von der Kapitulation am 08. Mai 1945 erfuhren wir im Radio.
 
Bereits in den vergangenen Tagen war des öfteren deutsches Militär durch den langgezogenen Ort Richtung Westen gefahren und auch an diesem Tage durchquerte ein Strom von Lastwagen Hennersdorf. Die Landser hingen wie Weintrauben an den Wagen. Wir warteten auf die Dinge, die da kommen würden. Gegen Mittag nahm das Fahren der Militärfahrzeuge plötzlich ein Ende. Es trat eine ungewöhnliche Ruhe ein, die wie sich später herausstellen sollte, die Ruhe vor dem Sturm war. Wir saßen vor der Gastwirtschaft auf einer Bank. Auch mein Vetter, der im Krieg ein steifes Knie davongetragen hatte, war bei uns. Es hatte sich schnell herumgesprochen, daß die Russen bereits Einzug im Dorf gehalten hatten. Gespannt warteten wir auf den ersten russischen Soldaten. Nach einiger Zeit erblickte mein Vetter einen Russen und machte uns gleich auf ihn aufmerksam. Er kam mit einem Fahrrad daher gefahren und man konnte ihm sofort ansehen, daß er das Fahren noch erlernte. Er drehte jedoch gleich wieder um, weil er wohl gemerkt hatte, daß hier noch keine Soldaten gewesen waren. Bald darauf kam ein deutscher DKW mit vier russischen Offizieren vorbei. Sie hielten an und einer von ihnen, der die deutsche Sprache ganz gut beherrschte, fragte nach dem Sitz des Bürgermeisters. Wir erklärten den Weg und sie setzten ihre Fahrt fort. Danach kam eine bespannte Einheit und hielt ebenfalls vor der Gastwirtschaft. Sie machten einen freundlichen Eindruck, so daß sich unser erster Schock etwas löste. Mein Vetter, dem man sein Soldatenalter ansah, wurde von ihnen nach seinem Ausweis befragt, den er sogleich vorzeigte und dabei auch auf sein zerschossenes Knie aufmerksam machte. Dann betrachteten sie den alten lnspektor, der ebenfalls in unserer Runde saß. Er hatte die Hände auf seinen Stock gestützt, die Jacke offen und seine silberne Uhrkette blitzte aus seiner Weste hervor. Einem der Russen war das sofort ins Auge gefallen und er wollte nach der Uhr und Kette greifen. Doch der alte Inspektor holte mit seinem Stock aus und ich höre ihn noch rufen: „Du verfluchter Russenjunge, wirst mir doch wohl die Uhr nicht abnehmen“ Der Russe muß wohl genauso perplex gewesen sein wie wir und zog mit seinen Kameraden ab. Wir waren erstaunt und lachten noch über den Mut des alten Mannes, doch in der darauf folgenden Nacht haben sie ihm dann doch seine Uhr abgenommen.
 
Wir waren zu dem Hof unserer Gastgeber zurückgegangen, von dem wir wegen seiner erhöhten Lage alles gut übersehen konnten. Natürlich wollten nun auch meine Mutter, meine Schwester und die anderen Frauen wissen, wie die Russen waren. Wir machten jedoch aus, daß sie sofort nach hinten heraus in den Wald laufen sollten, sobald sich irgend etwas tat. Bald nachdem es dunkel geworden war, hörte man, daß unten im Dorf etwas los sein mußte. Die Russen sangen und hin und wieder hörte man auch Frauengeschrei. Es dauerte nicht lange, als zwei Mädchen aus dem Dorf heraufkamen und bei uns Schutz suchten. Sie berichteten, daß die Russen im ganzen Ort hinter den Frauen und Mädchen her waren.
 
Es muß wohl gegen Mitternacht gewesen sein, als es an unserer Haustür donnerte. Meine Mutter und Schwester sowie die junge Frau des Hauses machten sich schnell durch den Stall nach hinten aus dem Haus und liefen in den Wald. Die beiden Mädchen waren zu schwach, um weiterzulaufen und versteckten sich auf dem Boden. Da die Russen bereits die Tür eingetreten hatten, gingen mein Vater und ich ihnen entgegen. Nie werde ich es in meinem ganzen Leben vergessen wie die zwei Russen uns ihre Pistolen auf die Brust setzten und schrien: „Wo Paninka?" Wir antworteten: „Nix Paninka“, doch sie hatten wohl gesehen, daß sich die zwei Mädchen auf diesen Hof geflüchtet hatten. Sie sperrten uns in eine Kammer ein und durchsuchten das Haus. Inzwischen war unser Pole nach Hause gekommen, konnte jedoch nichts machen, da auch er bedroht wurde. Sie fanden die beiden Mädchen auf dem Dachboden und vergewaltigten sie. Zweimal wurde auch geschossen, was den Mädchen jedoch nur Angst einjagen sollte.
 
Die Frauen im Wald hatten die Schüsse natürlich auch gehört und vermuteten, man hätte meinem Vater und mir etwas angetan. Als die Soldaten verschwunden und wir wieder befreit waren, liefen wir in den Wald, um unsere Leute zu suchen. Dabei merkten wir erst, wie viel Menschen hier Schutz gesucht hatten. Es war nicht einfach, sich in der Dunkelheit zu finden; rufen konnten und wollten wir nicht. Als wir die Frauen endlich gefunden hatten, war die Freude natürlich groß, daß uns allen nichts passiert war. Der Morgen graute schon, als wir auf den Hof zurückkehrten.
 
Der nächste Tag war verhältnismäßig ruhig. Bald stellte sich heraus daß wir noch glimpflich davon gekommen waren, denn unten im Dorf war sehr viel geplündert worden. Auch die beiden Wagen von Sauer waren stark in Mitleidenschaft gezogen. Mein Vater machte sich sehr viel Gedanken darüber was denn die Leute, deren Sachen wir auf den Wagen mitgenommen und stehen gelassen hatten, sagen würden, wenn wir nur mit der Hälfte zurückkommen würden. Jeder Gedanke hierüber war jedoch unnötig, wie sich später herausstellen sollte.
 
Zurück in die Heimat
 
Zwei Tage nach der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation in Berlin kam am 10. Mai der Befehl, daß alle Flüchtlinge das Sudetenland bis zum 12. Mai zu verlassen hätten und in ihre Heimat zurückkehren sollten. Des Abends kamen noch immer deutsche Soldaten auf unseren etwas abgelegenen Hof, baten um etwas zum Essen und fragten nach dem Weg, denn sie alle wollten noch schnell über die Elbe kommen.
 
Unsere Dieselfässer hatten wir vor dem Umsturz noch volltanken können, so daß es daran nicht fehlte. So beluden wir wieder unsere Wagen und fuhren gegen Mittag des 12. Mai in Hennersdorf ab. Da wir nun mehr Platz auf unserem Wagen hatten und Breslau auf unserem Weg lag, nahmen wir unsere Verwandten von dort mit. Unterwegs boten sich uns furchtbare Bilder von zusammengeschossenen Trecks, ausgeplünderten Wagen, aufgeblähten Pferden und Menschen, insbesondere deutsche Soldaten, die in den letzten Tagen des Krieges noch gefallen waren. Da der Mai dieses Jahres sehr warm war, war der Geruch, der in der Luft lag, manchmal nicht zum Aushalten.
 
Am Ende des ersten Tages erreichten wir Reichenau, wo wir in einen Fabrikhof fahren mußten, der mit Flüchtlingswagen, Kuhgespannen und Traktoren gefüllt war. Alle Ausländer, die sich noch unter uns Deutschen befanden wurden am Abend zu einem Verhör durch die Russen gerufen. Als unser Rudolf zurückkam, teilte er uns mit, daß man ihn gefragt hätte, ob er von Waffen wisse, die sich bei den Deutschen befänden und wer die Personen seien. Er hatte die Frage verneint, meinte jedoch, daß wir die Waffen lieber verschwinden lassen sollten, da die Russen am nächsten Tag eine Kontrolle durchführen wollten. Nun war guter Rat teuer, denn wie und wo sollten wir die Jagdgewehre verstecken? Als es dunkel geworden war, schlichen mein Vetter und ich uns am Zaun des Fabrikhofes entlang, um ein geeignetes Versteck auszukundschaften. Glücklicherweise wurde nur das Eingangstor zum Hof bewacht. Bald stellten wir fest, daß an der oberen Ecke des Zaunes dicht daran ein Teich grenzte. Dies schien uns ein guter Platz zu sein, und so zogen wir uns zurück, um meinem Vater von der Entdeckung zu berichten. Wir erzählten ihm von unserer Idee. die Waffen im Teich zu versenken. Natürlich fiel es meinem Vater, der ein alter Jäger war nicht leicht, sich davon zu trennen, aber er sah ein, daß uns gar nichts anderes übrig blieb, wenn sie den Russen nicht in die Hände fallen sollten.
 
Zu später Stunde schlichen wir zu dritt zurück an die Stelle des Zaunes, an der der Teich grenzte. Wir hatten nur die Absicht gehabt, uns der Gewehre, die auf dem Wagen in Decken eingewickelt gelegen hatten, zu entledigen. So ließen wir die Pistolen, die mein Vater und ich so gut getarnt auf dem Anhänger versteckt hatten, dort wo sie waren. Als wir die Gewehre über den Zaun in den Teich geworfen harten, fiel uns allen ein großer Stein vom Herzen, denn wer weiß was mit uns geschehen wäre, hätten die Russen die Waffen entdeckt.
 
Am nächsten Tag wurden dann nur vereinzelt Kontrollen durchgeführt und als ein Soldat auf uns zukam, rechneten wir damit, daß nun auch unsere Wagen inspiziert werden würden. Erfreulicherweise hatten wir uns geirrt, denn er versuchte nur uns klarzumachen, daß wir auf unserer Weiterreise 15 ehemalige Ostarbeiter und zur Bewachung einen russischen Soldaten auf unseren Wagen mitnehmen sollten. Glücklich darüber waren wir natürlich nicht, doch blieb uns keine andere Wahl. Wir bekamen nun Order, zum Tor zu fahren, wo die 15 Personen mit ihren Köfferchen, oder Pappkartons aufstiegen. Man sah ihnen an, daß sie nicht anders über die gemeinsame Fahrt dachten als wir. Der russische Soldat setzte sich bewaffnet mit einer MP, auf den Sitz des letzten Wagens, so daß er alles gut im Auge behalten konnte. Weil es sich bei ihm jedoch um einen freundlichen Menschen handelte und er selbst keine Marschverpflegung bei sich hatte, gaben wir ihm etwas von unserem Proviant ab. Als wir etwas geräucherten Speck von dem seinerzeit geschlachteten Schwein abschneiden wollten, stellten wir allerdings voller Entsetzen fest, daß wir in der Aufregung sämtliche im Sudetenland versteckte Verpflegung vergessen hatten, so daß uns allen nur noch wenig zum Essen geblieben war. Wir fuhren deshalb so gut und so schnell es eben ging in Richtung Zittau, zumal wir auch keine große Lust verspürten, länger im Sudetenland zu bleiben, da die Tschechen oftmals versuchten, uns anzuhalten. In diesen Momenten erfuhren wir jedoch durch unseren russischen Bewacher einen gewissen Schutz, so daß vielleicht schlimmeres verhütet werden konnte.
 
An diesem Tag kamen wir bis Görlitz und wären wir in der heutigen DDR geblieben, so hätte dies uns vieles erspart. Aber wer konnte schon wissen, daß unser schönes Schlesien polnisch werden würde; außerdem blieb uns nichts anderes übrig, als nach Haus zu fahren. Ich kann mich noch genau erinnern, wie wir vor der Lausitzer Neißebrücke halten mußten. Es war eine Notbrücke, denn die ursprüngliche Flußüberfahrt war gesprengt worden. Der Russe stieg mit seinen 15 Leuten ab und machte uns klar, daß wir nun allein weiterfahren sollten. Wir überquerten die Neiße und bekamen auf der anderen Seite des Stroms alsbald polnische Soldaten mit ihren viereckigen Mützen zu sehen.
 
Am Rande der Stadt mußten wir halten, da uns ein Lenkungsbolzen abgerissen war. Als wir dort standen, kamen fünf Russen an uns vorbei, die uns einen Trecker abnehmen wollten. Da sie aber sahen, was passiert war, gaben sie ihr Vorhaben auf. Den Bolzen ersetzten wir schnell durch eine Schraube und fuhren weiter bis Lauban; die Tage waren ja bereits recht lang zu dieser Jahreszeit. In Lauban kamen wir bei Dämmerung an. Es war hier viel russisches Militär stationiert, was uns nicht gerade beruhigte. Die Russen hatten gerade ein ehemaliges Parteigebäude angesteckt, das lichterloh brannte. Völlig überrascht hielt uns dann ein französischer Soldat an. Es stellte sich heraus, daß hier ein französisches Gefangenenlager war. die Gefangenen jedoch noch nicht abtransportiert waren und noch auf ihre Heimreise warteten. Der Soldat gab uns zu verstehen, daß wir in dem Lager übernachten sollten, da wir dort Ruhe hätten und kein Russe das Lager betreten würde. Wir nahmen sofort an und waren froh, daß wir ein Unterkommen gefunden hatten. Im Lager befanden sich noch mehr Flüchtlinge. Wir bekamen sogar etwas zu essen; die Franzosen hatten wahrscheinlich vom Roten Kreuz Verpflegung erhalten. Wir blieben den nächsten Tag noch dort und waren glücklich, uns endlich einmal wieder waschen und ausruhen zu können. Besonders meinen Großeltern tat dies gut, denn das Leiden meines Großvaters wurde immer schlimmer.
 
Nachdem wir uns bei unseren Gastgebern bedankt und ihnen ebenfalls einen guten Heimweg gewünscht hatten fuhren wir am anderen Tag weiter. Es ging über Löwenberg, Goldberg und Liegnitz, wo wir den Befehl erhielten, auf einen dort gelegenen großen Hof zu fahren, damit diejenigen von uns, die arbeitsfähig waren, bei den Aufräumungsarbeiten helfen konnten. Schlafgelegenheiten boten sich in den umliegenden Häusern. Die polnische Miliz hatte durch ihre Anwesenheit dafür zu sorgen, daß keiner von uns auf dumme Gedanken kam. Soweit man nicht noch bei den Aufräumarbeiten etwas zu essen fand, mußte man sich von der miserablen Verpflegung der Polen ernähren. Nach drei Tagen bekamen wir die Erlaubnis zum Weiterfahren, mußten aber als Dank Sauers Traktor mit den beiden Anhängern zurücklassen. Auch der Einsatz unseres Polen Rudolf, der seinen Landsleuten zu erklären versuchte, daß die Utensilien auf den Wagen nicht uns gehörten, half nichts. Was blieb uns, die wir ja rechtlos waren und das zu tun hatten, was die hohen Herren befahlen, anderes übrig, als uns alle auf unseren Wagen zu drängen und weiterzufahren, Richtung Neumark.
 
Als wir unterwegs eine Pause einlegten, wurden wir abermals von polnischen Soldaten belästigt. Ich hatte ein paar noch gut erhaltene Knobelbecher an, die mir mein Vater einmal im Krieg besorgt hatte. Einer der Polen fand Gefallen an ihnen und so mußte ich die Stiefel ausziehen und in seine ausgetretenen Latschen steigen. Dann holten sie die Koffer von unserem Wagen und brachen sie auf. Bei der geringsten Widerrede wurde mit der Schußwaffe oder mit Schlägen gedroht. Bei ihren Durchsuchungen stießen sie auch auf den Koffer des Freundes meiner Schwester. Er war Oberleutnant und Fluglehrer auf dem Brieger Flugplatz gewesen. In dem aufgebrochenen Koffer fanden sie zwei Extra Uniformen und einen Pilotendolch. Einer von ihnen schnallte sich sogleich den Dolch um und man sah ihm den Stolz über seine Eroberung an. Wir wurden beschimpft, weil wir deutsche Uniformen bei uns hatten, was die Polen jedoch nicht abhielt, sie sich sofort anzuziehen. Da sie aber immer noch weiter plünderten, kam uns schon einmal der Gedanke an unsere Pistolen; um sie allerdings gegen die Polen einzusetzen, wäre völliger Blödsinn gewesen. Auch das Sattelzeug und die vier englischen Krummetgeschirre, die in Säcken gesteckt waren, fanden sie und nahmen sie uns weg. Meinem Vater tat dies besonders weh, da er sehr an den Geschirren und dem Sattelzeug hing; denn er war ein alter Kavallerist, der 1934 sogar einmal den 1. Preis im Viererzug fahren mit selbstgezüchteten Rappen gewonnen hatte.
 
Als sie uns nun weiterfahren ließen, waren wir um einiges leichter. Am Ende des Tages hatten wir Neumark erreicht. Auch hier mußten wir auf einen Fabrikhof fahren, wo uns auch gleich gesagt wurde, daß wir zu Aufräumungsarbeiten eingesetzt werden würden. Rudolf, unser Pole, verabschiedete sich hier von uns und wollte sehen, wie er nach Hause kommen könnte. Ich hatte den Eindruck, daß er es auch nicht mehr mit ansehen konnte, wie wir drangsaliert wurden. Von ihm haben wir danach nie mehr etwas gehört, wo hingegen ich auf Anton, den anderen Polen, noch einmal zurückkommen werde.
 
Schlafgelegenheiten gab es in Räumen, die zur Fabrik gehörten. Das Leiden meines Großvaters wurde immer größer. Und während unseres Aufenthaltes dort wurden unser Wagen des Nachts noch weiter geplündert. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange wir dort bei schlechter Verpflegung und harter Arbeit geblieben waren. Eines Tages aber wurde uns eröffnet, daß wir unsere Heimreise fortsetzen durften. Allerdings ließ man uns auch hier nicht ohne Gegenleistung, gehen, So mußten wir den Trecker - und mit ihm unsere Pistolen - und den Wagen stehen lassen. Da wir jedoch meine Großmutter und die alte Frau Kache bei uns hatten - sie und ihre Tochter waren ja noch immer in unserer Begleitung - stellten sie uns einen kleinen Wagen und ein Pferd zur Verfügung. Es war ein zweirädriger Handkarren, wie sie früher auf Bahnhöfen üblich waren, der für die drei Breslauer bestimmt war. Wir konnten nur noch das wichtigste mitnehmen; zum Glück war noch Platz für die Betten. Wir bepackten den kleinen Wagen so, daß noch Platz für meine Großeltern, Frau Kache und die Breslauer Oma war. Mit dem, was uns nun noch geblieben war, machten wir uns auf die Reise. An welchem Tag wir von Neumarkt aufbrachen, kann ich nicht mehr sagen; man war auch damals von den vielen Aufregungen schon völlig durcheinander. Zum Schluß unseres dortigen Aufenthaltes freute sich jedenfalls die polnische Miliz und wir waren auf der einen Art froh, endlich weiterfahren zu können.
 
Das Pferd und den Wagen hatten die Polen sicherlich anderen deutschen Flüchtlingen abgenommen und nun traten sie mit uns den Weg zurück an. Hinter den Karren hatten wir noch den Wagen der Breslauer gehängt. Wir liefen neben dem Zug her, wobei immer einer den Karren stützen mußte, da er nur zwei Räder hatte. Weit brachten wir es nicht an diesem Tage. Wir hielten in einem Ort, dessen Name mir nicht mehr in Erinnerung ist und suchten uns ein abgelegenes Haus, in dem wir übernachten konnten. Wie viele der Dörfer zur damaligen Zeit war auch diese Ortschaft so gut wie menschenleer. Die Einwohner waren nach ihrer Flucht zum größten Teil noch nicht zurückgekommen. Wir befanden uns in einem deprimierten Zustand; niedergeschlagen von den Ereignissen der letzten Tage sahen wir der Zukunft mit wenig Hoffnung entgegen. Es muß so um den 20. Mai herum gewesen sein, als wir uns in diesem, von Menschen verlassenen Dorf wiederfanden. Wenn auch die Heimat nicht mehr all zu weit entfernt war, wußten wir doch nicht, wann unsere Odyssee beendet sein würde.
 
Nachdem wir eine Unterkunft gefunden hatten, stand als nächstes die Suche nach etwas Eßbarem an, da wir selbst keine Verpflegung mehr hatten. Auch das Pferd wollte versorgt sein. Zwar gab es schon Grünes, was wir ihm hätten geben können, doch fanden wir bald etwas Hafer, genug wenigstens, um noch etwas davon mitzunehmen, denn der „Hafermotor" mußte ja laufen. Auch Mehl und andere Vorräte, die wir auf die Reise mitnehmen konnten, stöberten wir auf. Nachdem wir, so gut es ging, geschlafen und noch eine Mehlsuppe eingenommen hatten, brachen wir wieder auf. Manchmal mußten wir auf unserem Weg an russischen Truppen vorbei, die hier noch einquartiert waren. Sie merkten aber wohl, daß bei uns nicht mehr viel zu holen war und ließen uns fahren. Unsere Route führte rechts an Breslau vorbei in Richtung Ohlau. Bei Klettendorf trennten sich die Breslauer von uns und fuhren nun allein mit dem Handkarren nach Breslau-Karlowitz.
 
Kaches und wir kamen an diesem Tag bis Kattera, wo wir halt machten, um uns über Nacht auszuruhen. Meine Schwester und Fräulein Kache schliefen unter einem Mähdrescher (eine solche Maschine hatten wir noch nie gesehen), damit sie einigermaßen sicher vor Belästigungen der Russen waren. Wo wir meine Großeltern untergebracht hatten, weiß ich nicht mehr zu sagen. Aber es stellte immer wieder das größte Problem dar, für sie eine geeignete Schlafstelle zu finden. Der nächste Tag brachte uns schon langsam in heimische Gefilde. Wir fuhren über Seydlizaue, Leisewitz, Ohlau und machten in Rosenhain halt, da Kaches hier Verwandte hatten, die auch daheim waren. Unterwegs boten sich uns Bilder, die ich nicht vergessen werde. Vor Ohlau lag an der Straße eine nackte Männerleiche, bei der der ganze Rücken zerschlagen war. In Ohlau selbst stand ein deutscher Soldat in voller Uniform mit Gewehr an einer Kreuzung und spielte - wir trauten unseren Augen nicht - Verkehrspolizist. Als wir näher kamen, sahen wir, daß es ein Soldat vom Komitee Freies Deutschland war, denn er trug keine alten Hoheitszeichen auf seiner Uniform. Da wir uns bei ihm nach dem Weg erkundigten, bestätigte er unsere Annahme.
 
Rosenhain sollte die letzte Rast auf unserer Rückkehr in die Heimat sein. Wir waren dort bei Verwandten der Kaches gut untergekommen. Als wir in der Küche saßen und etwas essen wollten hörten wir, daß draußen vor der Tür mit einem mal aus Maschinenpistolen geschossen wurde. Wir fuhren alle zusammen. Bald darauf kamen drei uniformierte russische Mädchen mit Maschinenpistolen herein. Zwei von ihnen stellten sich in die Tür, die dritte begann, uns alle zu durchsuchen.
 
Bis hierher hatte ich meine Armbanduhr. die ich zur Konfirmation geschenkt bekommen hatte, vor allen Plünderungen retten können. Ich hatte sie zwar in die Hosentasche gesteckt, doch waren die Mädchen bei ihrer Durchsuchung derart gründlich, daß es mir nicht möglich war, die Uhr noch irgendwo verschwinden zu lassen. Sie eigneten sich dann noch weitere Sachen an, dabei auch einiges unserer Gastgeber. Als sie meinten, genug eingesammelt zu haben, nahmen sie sich einen jungen Mann vor, der aus Rosenheim stammte und an diesem Tag auf Besuch bei Kaches Verwandten war. Er war erst 17 Jahre alt. Weil er sich den Russinnen gegenüber nicht richtig ausweisen konnte, drohten sie, ihn zu erschießen. Sie standen vor ihm, die Waffen auf ihn gerichtet, und erfreuten sich, wohl an dem Anblick des Jungen, der da stand und weinte. Uns anderen lief der kalte Schweiß am Körper herunter. Wir waren wie gefesselt und konnten nur zusehen. Die Minuten, die wir so da standen bis sie endlich von ihm abließen und aus dem Hause gingen, kamen mir vor wie Stunden.
 
Durch dieses Erlebnis waren wir alle sehr genervt, so daß keiner so richtig in den Schlaf fand. Am nächsten Tag, es war der 24. Mai, setzten wir unsere Fahrt schon sehr früh fort. Über Frauenhain, Klein-Jenkwitz und Laugwitz erreichten wir dann unser Dorf Pampitz. Wir fuhren auf unserem Feldweg entlang und jeder hielt Ausschau, ob die Gebäude noch alle standen. Wir sahen, daß verschiedentlich Scheunen abgebrannt waren. Als es ins Dorf ging, war zu erkennen, daß hier viel russisches Militär lag. Aus der ehemaligen Wirtschaft Thomanek kam eine Frau heraus, als wir gerade daran entlangkamen. Sie erzählte uns, daß das russische Militär im Ort stationiert sei, da die Deutschen alle Gebäude am Flugplatz gesprengt hatten. Sie bot uns Platz in ihrer Unterkunft an, falls wir nicht auf unseren Hof kommen könnten. Voller Spannung auf das, was uns erwarten würde gingen wir die Dorfstraße hinunter.
 
Ankunft in Pampitz
 
Unser Hof bot einen fürchterlichen Anblick. Zwar standen noch alle Gebäude, doch hatte die Scheune einen Treffer bekommen, der jedoch zum Glück in eine strohlose Ecke gegangen war und nur Dachschaden bewirkt hatte. Und als wir ins Wohnhaus kamen, sahen wir, daß auch hier ein kleines Geschoß zwei Wände durchschlagen hatte und in der dritten Wand steckengeblieben war. Im guten Zimmer mußten Schafe gewesen sein; man konnte es an dem Kot noch sehen. Im Garten lagen vor den Fenstern riesige Kartoffelschalen, die furchtbar stanken. In den anderen Räumen stand der Dreck, die meisten Möbel waren weg, Hier konnten wir nicht bleiben und so kehrten wir gleich zu der Frau zurück, um ihr Angebot anzunehmen und uns für die Nacht dort einzurichten.
 
Im oberen Teil des Hauses war noch sehr viel Platz und es standen noch genügend Möbel dort, so daß wir fürs erste gut untergekommen waren. Besonders meinem Großvater tat es gut, wieder in einem richtigen Bett zu schlafen. Man merkte ihm schon an, daß es nicht mehr lange gehen würde. Stallungen waren auch vorhanden; damit hatte das Pferd ebenfalls ein Unterkommen. Die Frau, deren Namen ich nicht nennen will, lebte mit einem mongolischen Feldwebel zusammen, wodurch uns auch in der Nacht Schutz gewährleistet war. Am nächsten Tag gingen wir sogleich zu unserem Hof, der nicht von den Russen besetzt war, schafften zunächst ein bißchen Ordnung und machten sauber. All unser Vieh war fort, nicht einmal eine Katze oder Taube waren da. Der Storch, der immer auf dem Dach unserer Scheune zu sehen gewesen war, lag erschossen in seinem Nest. Ich kletterte das Dach hinauf und warf ihn aus dem Nest; ein neues Pärchen kam allerdings in diesem Jahr nicht mehr. Den Ställen nach zu urteilen mußte hier während unserer Abwesenheit eine Veterinärabteilung gelegen haben. Unseren Geldschrank hatte man auf den Hof geworfen und aufgesprengt. Die Wasserleitung war entzwei, so daß wir den Brunnen abdecken mußten, um Wasser zu schöpfen. Es war viel Arbeit, bis wir es wieder etwas wohnlich hatten. Mehr Glück hatten unsere Nachbarn Kaches gehabt, die gleich ihren Hof wieder beziehen konnten.
 
Als ich von den Vorbereitungen zu unserer Flucht berichtete, hatte ich unseren genossenschaftlichen Dreschsatz erwähnt, der in der Scheune geblieben war, da wir eine Woche zuvor noch gedroschen hatten. Er stand nicht mehr in der Scheune, sondern war in alle Winde zerstreut. Während die Dreschmaschine auf dem Feld stand (wie sie dort hingekommen ist, wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben), waren der Motorwagen und die Welgerpresse im Dorf verteilt aufzufinden. Da in den Mieten und Kellern noch Kartoffeln und auf dem Boden etwas Korn lagen, standen nun wenigstens die Grundnahrungsmittel zur Verfügung.
 
Meinem Großvater war es von Tag zu Tag schlechter gegangen. Ärztliche Hilfe gab es für ihn nicht und so verstarb er auf elendste Weise. Der Stellmacher Pietsch, der inzwischen ebenfalls heimgekehrt war, nagelte einen Sarg zusammen, Mein Großvater Seidel hatte in seinem Lehen keine Beerdigung ausgelassen, wenn es galt, einem Verwandten oder Bekannten die letzte Ehre zu erweisen. Wer diesen ehrwürdigen Bauern gekannt hat, wird mir da beipflichten. Hier nun mußten wir ihn mit unserem Wagen im engsten Familienkreis und ohne Pfarrer auf einem für ihn ganz fremden Friedhof am 30.05.1945 zu Grabe tragen. Als einzigen Trost könnte man es vielleicht ansehen, daß er Schlesien noch einmal gesehen hatte.
 
Freiwild
 
Die Zeit während des II. Weltkriegs war schon wahrlich nicht leicht gewesen, doch im Vergleich zu dem, was wir in den letzten Monaten erlebt hatten und noch erleben sollten, war das noch erträglich gewesen. Jedermann war auf sich selbst gestellt und mußte sehen, wie er zurecht kam. Und doch gab es immer wieder Menschen, die uns geholfen hatten, auch wenn die eigene Lage nicht gut gewesen war. Ich denke dabei an die vielen Leute, die uns auf unserer Flucht Unterkunft und Verpflegung gewährt hatten. In einer Zeit, in der alles knapp war, was man für den täglichen Bedarf brauchte, war so etwas nicht immer selbstverständlich. Selbstverständlich war auch nicht das, was uns am Tag nach der Beerdigung meines Großvaters widerfuhr. An diesem Tag nämlich kam ein Studienrat aus Brieg auf unseren Hof und brachte eines der Pferde zurück, das zu dem Gespann gehörte, welches mein Vater im Krieg der Stadt Brieg zur Verfügung stellen mußte. Der nette Herr berichtete, daß das andere Pferd eingegangen war. Wir hatten nun aber zumindest zwei Pferde, was natürlich eine große Hilfe für uns war.
 
Durch die Umstände der letzten Tage waren wir nicht dazu gekommen, auf unseren Hof einzuziehen. Als es jetzt aber losgehen sollte, versperrten uns die Russen unser Haus. Es blieb nichts anderes übrig, als auf den Nachbarhof der Familie Gutsche einzuziehen. Auch den Kaches erging es nicht anders, und auch sie kamen auf diesen Hof; so waren wir Leidensgenossen wieder zusammen. Die Soldaten machten uns deutlich, daß unsere Höfe für durchfahrende Russen zur Übernachtung freigehalten werden sollten. Sie schafften Sofas, Betten und Liegen heran und stellten sie in unsere vorher sauber gemachten Räume. Wir waren natürlich deprimiert und nun mußten wir die uns in der Gastwirtschaft bereitgestellten Räume wiederum herrichten.
 
Unsere Häuser waren oft belegt, denn es herrschte reger Verkehr in unserem Ort. Das lag daran, daß die vor dem Krieg gebaute Autobahn von Breslau kommend nur bis Zindeln ging. Sie war während des Krieges nicht weitergebaut worden, Die Autos kamen dann durch Pampitz, um in Richtung Oberschlesien oder Karlsmarkt weiterzufahren, denn bis dorthin hatte der Russe seine Breitspureisenbahn gebaut. So verbrachten wir die Tage und Nächte auf dem Nachbarhof und mußten mit ansehen, wie fremde russische Soldaten in unseren Häusern hausten. Doch das Leben mußte weitergehen und da es schon Mai war, wurde es Zeit, die Felder zu bestellen.
 
Als wir eines Tages begannen unsere Güter zu besehen, fanden wir acht tote deutsche Soldaten, die im Februar gefallen sein mußten. Sie waren natürlich sehr verwest und boten einen grauenvollen Anblick. Einer der Soldaten lag auf dem Feldweg nach Konradswaldau; man war ihm mit Rädern immer über den Hals gefahren, bis schließlich der Kopf im Stahlhelm vom Körper getrennt war. Wir haben die Soldaten auf dem alten Friedhof, in dem die Kirche stand, begraben. Leider hatte nur einer von ihnen eine Erkennungsmarke, die wir einem Pastor aus Brieg übergaben.
 
Es war schon Anfang Juni, als wir ein oder zwei Morgen Kartoffeln pflanzten. Die Pflanzkartoffeln hatten wir noch aus unseren Mieten, doch sie wurden wegen der Wärme bereits schlecht und mußten schnell rausgemacht werden. In der Zwischenzeit waren allerlei Dorfbewohner zurückgekommen. Es häuften sich auch die Kuhherden, die von russischen Soldaten und Mädchen, die wohl in Deutschland gearbeitet hatten, nach Osten getrieben wurden. Es handelte sich durchweg um deutsches Vieh, das da in die russischen Gebiete gebracht wurde.
 
Eines Tages hütete eine Herde auf einem unserer Felder, auf dem wir im Herbst noch das Wintergetreide eingesät hatten und nun der Weizen in der Blüte stand. In meiner jugendlichen Unbekümmertheit ging ich hinaus und erklärte dem Russen, daß dies hier unser Weizen sei und sie doch bitte die Kühe vom Feld jagen möchten. Ein Mädchen, das bei der Herde stand, sprach gut deutsch und übersetzte mein Anliegen den Soldaten. Daraufhin wurden sie sehr grob und ich bekam es mit der Angst. Einer von ihnen befahl mir, eine Kuh, die etwas abseits stand, an die Herde heranzubringen. Danach sollte ich wieder herkommen. Dabei hob er seine Maschinenpistole, so daß ich mir ausmalen konnte, was passieren würde, wenn ich nicht gehorchte. Ich ging also zu der Kuh und trieb sie ein Stück heran. Dann lief ich blitzschnell in unseren Roggen, der schon etwas größer stand. Ich robbte und lief auf allen Vieren, um ihnen in Deckung zu entkommen. Dann hörte ich das Knattern der Maschinenpistolen. Jetzt lernte ich das Gefühl kennen, das man bekommt, wenn auf einen selbst geschossen wird. Mir ging es durch den Kopf daß mich niemand von der Familie finden würde, wenn ich getroffen würde. Ich hatte daheim natürlich nichts von dem gesagt, was ich vorgehabt hatte. Mein Vater hätte es mir sowieso nicht erlaubt. Wenn mich die Russen auch nicht sehen konnten, so war doch immerhin die Möglichkeit eines. Zufallstreffers gegeben, zumal die Ähren sich bewegten und meinen Standort verrieten. Ich krabbelte jedenfalls um mein Leben und das Herz schlug mir bis zum Hals. Als ich endlich am Langwitzer Weg angekommen war, konnte ich sicher sein, daß sie mich nicht mehr sahen. Ich machte, daß ich nach Hause kam, wo ich von dem Zwischenfall natürlich nichts erzählte und versuchte, mir von meiner Aufregung nichts anmerken zu lassen, was mir auch gelang. War ich damals noch unbeschadet davon gekommen, so erwischte es mich dann doch einige Tage später.
 
Wieder kam eine Viehherde durch den Ort, die auf Kaches Hof getrieben wurde. Wir Deutschen bekamen den Befehl, die Kühe, bei denen teilweise die Euter geplatzt waren, zu melken. Dabei konnten wir die Zentrifugen der Russen benutzen. Als Lohn bekamen wir Magermilch. Da wir ohnehin keine fetthaltige Nahrung hatten, klauten wir uns manchmal einen halben Eimer Milch, die für die Russen bestimmt war. Bei allen anderen ging das auch gut, nur mich hat irgendwer verraten. Ein Russe zitierte mich zu sich und schlug mich dann kräftig zusammen. Mich zu wehren wagte ich nicht.
 
Wie gefährlich das Leben für uns damals war, kann auch folgende Begebenheit zeigen: Zusammen mit zwei weiteren Bauern bekamen wir den Auftrag, den Flugplatz zu mähen. Wir mußten mit drei Rasenmähern hintereinander herfahren. Zwischen den Gespannen ging einer von uns um zu sehen, wo Minen lagen. Dies war der eigentliche Zweck unserer Arbeit. Zum Glück waren die Minen seinerzeit nur in den Schnee gestellt worden und somit nicht vergraben. Es handelte sich zumeist um Schützenminen. Wenn wir eine entdeckten riefen wir die Russen, die in gebührender Entfernung standen. Sie entschärften dann die Minen. Das ging drei Tage so und meine Mutter war jeden Tag großen Ängsten ausgesetzt und bangte um uns, bis wir abends wieder zu Haus waren.
 
Ein weiterer Zwischenfall, den ich nicht unerwähnt lassen will, ereignete sich eines nachts. Wir wurden durch lautes Pferdegetrampel geweckt. Als wir nachsahen, was wohl passiert sei, mußten wir feststellen, daß man unsere zwei Pferde gestohlen hatte. Dies war ein herber Schlag für uns, zumal wir wußten, daß es keine Möglichkeit gab, die Tiere wiederzubekommen. In dieser Zeit kamen zahlreiche russische Familien in unsere Gegend, was auch etwas Gutes hatte. Meine Schwester beispielsweise fand bei einem Major, der Frau und Kind hatte, als Kindermädchen Arbeit. So hatte sie Schutz und Verpflegung.
 
Das schon angesprochene Problem der fettlosen Ernährung stellte für uns eine immer schwierigere Situation dar und machte uns erfinderisch. In unserer Scheune befand sich noch Raps aus dem Jahre 1944, den wir nun mit den einfachsten Mitteln die uns zur Verfügung standen, droschen und anschließend nach Konradswaldau brachten. Dort befand sich eine Rapsmühle, die noch mit der Hand betrieben werden mußte. Mit dem Rapsschrot zurückkehrend, wurde er mit Wasserdampf erhitzt, in dem wir ein Tuch über das kochende Wasser spannten und dann das erhitzte Schrot in ein Leinentuch wickelten. Danach wurde er sofort mit einer Saftpresse ausgepreßt. So gewannen wir Rapsöl, das von meiner Mutter zusammen mit Mehl und Zwiebeln aufgebraten wurde. Anschließend wurde es kühl gelagert und bald war die Stahlinbutter, wie wir es damals nannten, fertig.
 
Gegen Ende des Juni erlaubten die Russen den Kaches und uns, wieder in unsere Häuser einzuziehen. Zu dieser Zeit arbeitete ich mit noch drei weiteren Jungen meines Alters auf dem Flugplatz. Unsere Arbeit bestand darin, für die große Küche der Russen, in die sie gewöhnliche Öfen gebaut hatten, Holz zu spalten. Die Öfen waren so lang, daß die Meterscheide ohne weiteres hineinpaßten. Das von uns gespaltene Holz wurde von einer anderen Kolonne mit einem Traktor aus dem Oderwald abtransportiert. Wir hatten für die damalige Zeit einen guten Job- und vor allen Dingen hatten wir gut zu essen.
 
Da ich den Flugplatz noch von früher gut kannte, nutzten wir einige Gelegenheiten, uns dort einmal umzusehen. Dabei stellten wir erstmals fest, daß die ganzen Gebäude, die erst zwischen 1937 bis 1939 gebaut wurden, gesprengt waren, auch die Hallen lagen danieder. Die Soldaten lebten teilweise in Zelten oder in kleineren Gebäuden, die noch unbeschädigt waren. Da wir alle nicht über mäßig mit Kleidung ausgestattet waren, durchkämmten wir die gesprengten Gebäude und bald hatte jeder von uns eine deutsche Fliegeruniform mit abgetrennten Hoheitszeichen an. Aus Spaß grüßten wir dann schneidig die russischen Soldaten, die den Jux mitmachten. Wir kamen also mit den Russen ganz gut aus.
 
Politische Neuordnung
 
Am 01.07.1945 wurde in Berlin auf der Potsdamer Konferenz ein Alliierter Kontrollrat eingerichtet. Die Nordhälfte Ostpreußens wurde unter sowjetische, die Gebiete östlich von Oder und Neiße unter polnische Verwaltung gestellt. Die Auswirkungen dieser Maßnahmen bekamen wir bald zu spüren. In unserem Dorf wurde eine Art Kolchose eingerichtet, was für uns vier Jungen leider bedeutete, daß es mit dem guten Job zu Ende war. Alles spielte sich auf den Höfen von Thomanek und Pantke ab. Es wurden Pferde, Kühe und Schweine geliefert. Mir kam es einmal mit zwei anderen Jungen zu, die Pferde Tag und Nacht zu hüten.
 
Da in den umliegenden Dörfern bereits Polen angesiedelt waren, bekamen wir sogar Karabiner und Munition. Nachts trieben wir die Pferde, es waren ungefähr 35 an der Zahl, in Sauers Weide. Tagsüber hüteten wir sie in der näheren Umgebung, wobei wir selbst beritten waren. Für die Nacht hatte man uns ein Zelt zur Verfügung gestellt und ab und zu ritt einer von uns um die Weide. Natürlich haben wir aus Blödsinn auch mal in die Luft geschossen; wenn dann halt ein Russe kam und nachfragte, was gewesen sei, antworteten wir, daß ein Pole die Pferde stehlen wollte. Der Russe stieß nun ein „Karaschö" aus und ging ab. Die Russen und Polen waren seinerzeit nicht gut aufeinander zu sprechen.
 
Der Umgang mit Kriegswaffen war für uns nichts Neues. Überall in der Gegend lagen noch genug Munition, Handgranaten und Gewehre herum. In einer Sandgrube am Laugwitzer Weg hatte man im Krieg einen Bunker mit sehr dicken Wänden und einer ebenso starken Decke gebaut, der den höheren Offizieren der Luftwaffe als Schutzraum bei Luftangriffen dienen sollte. Am oberen Teil des Bunkers war ein Ausstieg angebracht und unten befanden sich zwei Eingänge. Wenn wir Jungen Eierhandgranaten gefunden hatten setzten wir uns auf den Bunker, zogen die Sicherung ab und schmissen sie in das Ausstiegsloch. Die Eingangstüren standen offen, so daß uns eigentlich nichts passieren konnte. Wenn ich heute daran zurückdenke, wird mir klar, wie leichtsinnig wir damals noch waren.
 
An dieser Stelle will ich aber auch von einer anderen, erfreulicheren Begebenheit berichten, die dennoch charakteristisch für die damalige Zeit war. Es war Mitte Juli, als ein russischer Soldat auf unseren Hof kam und einen Brief von meiner Tante Martha aus Bögendorf, Kreis Schweidnitz, überbrachte. Sie war eine Schwester meiner Mutter. Wir waren alle sehr erstaunt, denn einen Postverkehr gab es damals nicht. Wie wir von dem Russen erfuhren, war er als Kurierfahrer zwischen den beiden Truppenteilen, die in Bögendorf und in unserem Ort lagen, eingesetzt. Meine Tante mußte dies in Erfahrung gebracht und dem Russen den Brief mitgegeben haben. Wir baten den Russen sogleich, einen Brief von uns an Tante Martha mitzunehmen, in dem wir ihr mitteilten, daß der Großvater bereits verstorben war. Es war schon eine merkwürdige Postverbindung, die uns aber etliche Male sehr erfreute.
 
Nun kam die Erntezeit, denn das Wintergetreide war ja, wie bereits erwähnt, 1944 noch eingesät worden. Wir Deutschen wurden nun zusammen mit den noch verbliebenen Pferden zum Ernteeinsatz herangezogen. Es wurde mit allen möglichen Maschinen gemäht, wobei auch die russischen Soldaten mithalfen. Das Getreide mußten wir in Schober zusammenfahren. Horst Körnig war noch ganz gut bespannt und hatte einen Hof von 250 Morgen. Er erntete noch für sich selbst. Ein paar Deutsche aus unserem Ort halfen ihm dabei und man ließ sie gewähren. Als alles zusammengefahren war, mußte gedroschen werden. Die Frage war nur, wie das geschehen sollte, denn man hatte weder Maschinen noch Kraftstrom. Nur der Strom für Licht stand uns wieder zur Verfügung.
 
Eine Lösung des Problems fand sich bald. Im Nachbardorf Kreisewitz befand sich das Gut des Grafen Pfeil, das etliche Tausend Morgen groß war. Das Vorwerk lag zwischen unseren Dörfern und hieß Huldahof. Auf diesem Vorwerk stand noch ein Dampfdreschsatz, der herbeigeholt und in Gang gebracht wurde, so daß mit ihm gedroschen werden konnte. Unter uns befand sich ein älterer Mann namens Neblig, der sich mit der Maschine auskannte und sie instandsetzte. Die meisten Pferde wurden nun nicht mehr gebraucht und deshalb abgezogen. Wir wurden einem Dreschkommando zugeführt. Das Korn wurde sofort auf russische LKWs verladen und abtransportiert. Wir bekamen als Lohn Verpflegung und etwas Hinterkorn. Das Stroh wurde mit Hilfe von Pferden, die nicht abgezogen waren, weggeschleppt. Die Aktion ging so vor sich, daß man eine vier bis fünf Meter lange Stange quer hinter der Maschine, die das Stroh auswarf, legte und von jedem Ende der Stange eine Kette anbrachte, die wiederum an den Schwengel des Pferdes befestigt wurden. So entstand ein Dreieck, in das das Stroh hineinfiel Sobald ein großer Haufen Stroh gebildet war, wurde angezogen und das Stroh weit genug weggeschleppt. War der Schober fertig und die Maschine weitergefahren wurde alles angesteckt.
 
Da der alte Neblig kränklich war, halfen Rudi Amlang, ein Klassenkamerad von mir, und ich ihm immer beim Aufstellen der Maschine, beim Durchstoßen der Röhren des Dampfkessels und beim Schmieren. Da wir tagsüber beim Dreschen helfen mußten, taten wir dies nach Feierabend, denn die Maschine hatte unser Interesse geweckt. Einige Tage später wurde der alte Neblig krank und bald darauf auch mein Schulkollege. Deshalb durfte ich den Dreschsatz führen und hatte somit wieder einen guten Job erwischt. Links am Dampfkessel stand der Wasserwagen, der Kohlewagen wurde rückwärts herangefahren. Wenn alles lief, hatte ich sogar noch Zeit, mich auf einen älteren Sessel zu setzen, der an der Seite stand. Ein Russe war unser Kolonnenführer und ich hatte mich ganz gut mit ihm angefreundet.
 
Mein neuer Job brachte es mit sich, daß ich morgens eine Stunde eher anfangen mußte und abends auch etwas länger zu tun hatte. So bemerkte ich auch, daß der Russe manchmal einen Sack Korn für sich verschwinden ließ, den er dann gegen Wodka tauschte. Um sicher zu sein, daß ich ihn nicht verraten würde, gab er mir einen Teil des Brotgetreides ab. So waren wir mit Getreide gut versorgt. Wir brachten es nach Konradswaldau, wo ein polnischer Müller schon eine Mühle in Betrieb hatte.
 
Nachdem die Ernte gut erledigt war, begannen wir, die Reste der Ernte aus dem Jahre 1944, die noch in den Scheunen lagen, zu dreschen und anschließend noch das, was der Bauer Körnig so mühsam ein geerntet hatte. Sogar das Heu, das sich ebenfalls noch von 1944 her auf den Böden befand, konnten wir noch mit einer Drahthochdruckpresse pressen. Woher die Russen die Presse hatten. weiß ich nicht. Zum Antrieb diente wiederum die Dampfmaschine. Als wir auch mit dieser Arbeit fertig waren, wurden die Maschinen nach Karlsmarkt gefahren und auf die Bahn verladen. Auch sämtliche Erntemaschinen, Heuwender und vieles mehr wurden fortgebracht. Im Ort blieb nur das, was wir noch unbedingt benötigten.
 
Obwohl wir durch die nun abgeschlossene Ernte einiges an Verpflegung als Lohn bekommen hatten, war doch immer noch zu wenig zum Essen vorhanden. Mein Vater hatte deshalb seit einiger Zeit damit begonnen. Schnaps aus trockenen Zuckerschnitzeln zu brennen. Sie sind nicht zu verwechseln mit gewöhnlichen Trockenschnitzeln, denn sie enthielten noch den ganzen Zuckergehalt. Von ihnen hatten wir auf dem Speicher noch allerhand liegen. Schnaps war seinerzeit die Währung und man konnte vieles dafür bekommen. Doch sollten diese Aktivität meinem Vater noch zum Verhängnis werden.
 
Nach dem Ernteeinsalz mußten Kühe, Schweine und Pferde versorgt werden, die sich, wie schon erwähnt, auf den beiden Höfen von Pantke und Thomaneck befanden. Hierzu wurden teilweise wir Deutschen eingesetzt. Zusammen mit zwei weiteren Jungen mästete ich die Schweine, die, wenn sie fett genug waren, geschlachtet und in der Küche bei Pantkes verwertet wurden. Zum Teil wurden die toten Tiere auch an andere Truppenteile verschickt. Wenn ich heute an das Schlachten zurückdenke, kommt mir immer noch ein Graus über. Während man den Rindern mit einer scharfen Axt hinter die Hörner schlug, so daß sie gleich gelähmt waren, stieß man dem Schwein, daß von vier oder fünf Männern gehalten wurde, ohne Betäubung ein Messer ins Herz, Man kann sich vorstellen, was das für ein Geschrei und Krakeel bei den Tieren gab. Auch die Spanferkel wurden so getötet. Anschließend brannte man die Schweine mit Stroh ab. Nachdem sie ausgenommen waren, machten wir das Darmfett ab, der Magen wurde der Suppe hinzugetan. So bekamen wir wenigstens fetthaltiges Essen.
 
Da die Soldaten Schrot und Kartoffeln zum Dämpfen herausbrachten, hatten wir natürlich auch daheim etwas davon. Die Kartoffeln, die wir uns noch im Juni gepflanzt und mühsam hochgezogen hatten, durften wir nicht ernten. Alles in allem war jedoch das Versorgungsproblem etwas erträglicher geworden.
 
Im Winter 1945/46 zog in unserem Haus ein russischer lnspektor ein. Er quartierte sich in die obere Etage ein, wir wohnten nun im unteren Teil. Wir hatten viele unruhige Nächte, denn es wurde viel gefeiert und ging manchmal toll her. Im zeitigen Frühjahr 1946 wurde die Kolchose verkleinert und das ganze Vieh kam nun auf unseren Hof. Bald darauf trafen 15 deutsche Kriegsgefangene ein, die in unserem Arbeiterhaus untergebracht wurden. Sie mußten in einer Autoreparaturwerkstatt arbeiten, die man auf dem Hof des Bauern Moser eingerichtet hatte. Ihr Essen kochten sie sich selbst und konnten sich auch sonst frei bewegen.
 
Im Mai 1946 kam uns Anton, unser Pole, zusammen mit seinem Bruder besuchen. Er war erstaunt, daß hier so viele Russen waren, denn unser Gebiet stand ja eigentlich unter polnischer Verwaltung. Man merkte ihm an, daß er sichtlich darüber beunruhigt war. Er hatte uns etwas zu Essen mitgebracht und erklärte uns, daß er sich nach England absetzen wollte. Durch ihn erfuhren wir auch daß er zusammen mit einem Teiltreck und nur unserem Gespann bis Bayreuth geflüchtet war.
 
Im Juni geschah dann das, was ich zuvor bereits angedeutet hatte. Mein Vater wurde von der polnischen Miliz abgeholt, da sie herausbekommen haben mußten, daß er gegen das polnische Branntweingesetz verstoßen hatte. Er wurde inhaftiert. Meine Mutter konnte ihn zwar zweimal im Monat besuchen, wobei sie immer etwas von dem Wenigen, was wir zum Essen hatten, mitnahm, doch sollten wir erst 1950 wieder zusammenkommen.
 
Ende Juli rückten dann die Russen aus unserer Gegend ab; lediglich eine Ortskommandantur blieb zurück. Selbst die deutschen Gefangenen wurden entlassen und marschierten eines morgens mit einem singenden Lied auf den Lippen in Richtung Autobahn. Uns gab man auf, das noch verbliebene Vieh und die vorhandenen Maschinen nach Karlsmarkt zu bringen, wo alles auf eine russische Breitspurbahn verladen wurde, die bis hierher gebaut worden war. Es war nun leer geworden in unserem Dorf und wir warteten nun auf die Dinge, die da kommen würden. Wir wußten nun, daß unsere Heimat polnisch werden sollte und in den umliegenden Ortschaften waren auch schon Polen angesiedelt. Unsere Zukunft war daher völlig ungewiß.
 
Eines Tages kam ein russischer LKW durch das Dorf. Die Soldaten schnappten sich in aller Eile einige Jungen und Mädchen, die sie auf die Schnelle auftreiben konnten. Zu ihnen gehörte auch ich. Wir mußten etwas Gepäck zusammenholen und wurden dann auf den LKW gebracht. Alles Flehen meiner Mutter half da nichts. Insgesamt waren wir zehn Jungen und fünf Mädchen, die nun da saßen und nicht wußten, was geschehen würde und was besonders schlimm war, wohin es überhaupt hingehen sollte. Meine Schwester hatte sich glücklicherweise rechtzeitig verstecken können und war somit nicht unter den „Auserwählten”.
 
So wurden wir unter Bewachung weggefahren. Es ging zunächst nach Brieg und von dort aus in Richtung Ohlau. Nun waren wir schon froh, daß sie uns nicht in den Osten brachten. Wir kamen dann nach Leisewitz auf die Domäne, wo wir zu Erntearbeiten eingesetzt werden sollten. Man hatte hier die Ländereien alle noch voll bestellt, auch der deutsche lnspektor war noch da. Ich kann mich noch genau an ihn erinnern, es war ein junger Mann, der nur noch einen Arm besaß. Man hatte ihm sogar ein Reitpferd belassen, was nicht selbstverständlich war, denn er war ja ein Deutscher.
 
Da ich Trecker fahren konnte, mußte ich mit einem 35-PS-Lanz und einem Bindemäher binden. Dabei fuhr immer ein älterer Mann mit. Alles in allem hatte ich es wieder gut erwischt. In der Küche wurde für alle gekocht und Schlafgelegenheiten gab es in Nebengebäuden. Bei einer Fahrt mit dem Trecker muß ich auf eine Mine gefahren sein, denn plötzlich krachte es ganz laut und hinter mir hörte ich den alten Mann aufschreien. Er hatte einen Splitter ins Bein bekommen; mir selbst war nichts passiert. Bei der Verletzung handelte es sich jedoch Gott sei Dank nur um eine Fleischwunde, so daß wir beiden noch einmal glimpflich davongekommen waren.
 
Mittlerweile hatte die polnische Post ihre Arbeit aufgenommen. Eines der Mädchen aus Pampitz schrieb deshalb ihrer Mutter einen Brief, in dem sie mitteilte wo wir gelandet waren und was wir zu tun hatten. So kannten nun unsere Angehörigen daheim zumindest unseren Aufenthaltsort. Einige Tage später kam dann die Mutter des Mädchens zu der Domäne. Sie berichtete, daß gegen Ende August unser Dorf ausgesiedelt werden solle. In den umliegenden Orten von Pumpitz seien die meisten Deutschen bereits fort. Nun packte uns natürlich die Angst, daß wir jungen Leute hier auf der Domäne bei den Russen bleiben müßten, während unsere Angehörigen, ohne zu wissen wohin, wegziehen müßten.
 
Die Mutter des Mädchens fuhr wieder nach Haus und kam zwei Tage später mit Sloti für jeden zurück. In der Zwischenzeit hatten wir ausgekundschaftet, daß jeden Morgen um 4 Uhr ein Zug von Leisewitz in Richtung Brieg fuhr. Was wir vorhatten, kann sich jedermann denken. Natürlich mußte alles geheim bleiben; nicht einmal den anderen Deutschen, mit denen wir zusammen arbeiten mußten, erzählten wir etwas davon. Auch die russischen Kommandanten sollten nichts erfahren, denn wir hatten Angst, daß sie uns dort behalten und extra bewachen würden. Eines Morgens, an das genaue Datum kann ich mich nicht mehr erinnern, machten wir uns früh genug auf den Weg zum Bahnhof. Daß es trotz der Jahreszeit noch dunkel war half uns dabei, unbemerkt und ungesehen von der Domäne wegzukommen. Wir hatten das Glück, das man bei einer solchen Aktion braucht, auf unserer Seite und waren schon am Mittag des selben Tages wieder zu Haus.
 
Dies alles schreibt sich im Nachhinein so leicht, doch muß man sich die damaligen Verhältnisse vor Augen führen. Wir waren für Polen und Russen Freiwild und hätten von jedermann, zu jeder Zeit und an jedem Ort zu Arbeiten herangezogen werden können. Daß wir jüngere Menschen zu unseren Angehörigen nach Haus wollten, damit sie nicht ohne uns den Ort verließen, hätte dabei keinen interessiert und niemanden erschüttert. Es ist nicht auszudenken, was mit uns passiert wäre, hätte man uns unterwegs erwischt. Also waren wir und unsere Angehörigen froh, daß wir mit Angst und Schrecken davongekommen und alle wieder vereint waren.
 
Ein Teil der deutschen Dorfbewohner wird ausgesiedelt
 
In verschiedenen Gehöften waren Polen eingezogen und auch einen polnischen Bürgermeister gab es schon, der auf dem Hof des Bauern Wende wohnte. Man stellte von uns Deutschen Listen auf, damit man sah, wie viel wir noch waren und wie wir ausgesiedelt werden sollten. Danach wurde ein entsprechender Plan aufgestellt. Es stellte sich heraus, daß neben etlichen anderen Familien auch wir nicht zu denen gehörten, die dem Plan zufolge ausgesiedelt werden sollten. Das beunruhigte uns natürlich sehr, denn obwohl dies unsere Heimat war, wollte jeder so schnell wie möglich hier heraus und in die damalige Westzone gelangen. Es hatte sich damals schon herumgesprochen, daß das Leben in der Westzone besser als in der Ostzone war. Gegen Ende des Monats August 1946 mußten wir dann von einem Teil unserer zurückgekehrten Landsleute Abschied nehmen. Sie fuhren in Brieg ab und sollten dann später in Rheda in Westfalen landen, wo sie auch heute noch leben. Sie hatten also Glück gehabt, daß sie in die damalige Westzone gekommen waren. Wir, die wir nun zurückbleiben mußten, wurden bei den Polen als Arbeitskräfte eingesetzt. Die Russen von der Domäne in Leisewitz meldeten sich zum Glück nicht mehr; vielleicht hatten sie sich woanders wieder Deutsche eingefangen.
 
Mit einem Mädchen zusammen mußte ich bei einer Polin im Nachbarort Konradswaldau arbeiten. Unsere neue Chefin sprach gut Deutsch, da ihre Mutter eine Deutsche gewesen war. Der Hof, auf dem sie nun wohnte, hatte früher einem Max Kreis gehört. Die Frau hatte zwei Söhne, von denen der jüngere 14 Jahre alt war und der ältere als Offizier bei der polnischen Armee diente. Zum Hof gehörten auch kleine Panjepferde, mit denen ich des öfteren unterwegs war und über deren Leistungsvermögen ich immer wieder ins Staunen geriet. So mußten sie z. B. den Schälpflug, oder andere Pflüge, die noch zu den deutschen Maschinen gehörten, ziehen, was sonst nur durch schwere Pferde getan wurde.
 
Unsere Arbeitgeber waren ordentliche Leute, die mir auch immer etwas Eßbares für meine Mutter, Schwester und Oma mitgaben wenn ich an den Sonntagen nach Hause ging. Auch tauschte die Polin einmal etwas Verpflegung gegen unsere Rübensaftpresse ein, die noch auf unserem Hof stand. Als ich eines Tages mal wieder auf dem Felde arbeitete, hörte ich plötzlich einen lauten Knall. Nachdem sich die riesige Staubwolke aufgelöst hatte, sah ich, daß man die alte Windmühle. die Keller-Mühle, gesprengt hatte. Was ich nicht wissen konnte war, daß mein Vater zu den Gefangenen gehörte, die dort nun die Trümmer aufräumen mußten. Sie hatten u. a. die schweren Eichenbalken in die wieder eingerichtete Pampitzer Schule zu bringen. Teilweise wurden diese Balken aber auch nach Brieg gefahren. Auf dem Hof der Polin blieb ich den Herbst 1946 über, bis die Arbeit dort erledigt war. Gegen Ende Oktober erlaubte man uns, wieder nach Haus zu gehen.
 
Meine Mutter war inzwischen von dem polnischen Bürgermeister unterrichtet worden, daß wir damit rechnen müßten, daß eine polnische Familie bei uns einziehen würde. Es waren wohl zwei Tage nach meiner Rückkehr vergangen, als zwei Familien, insgesamt fünf Personen, auf unseren Hof kamen. Dabei handelte es sich um ein älteres und ein jüngeres Ehepaar, die ein kleines Kind hatten und miteinander verwandt waren. Der ältere Mann hatte Ähnlichkeit mit dem späteren israelischen Verteidigungsminister Mosche Dayan; auch er trug eine Augenklappe und war durchaus ein Ehrenmann, wie sich später herausstellen sollte. Er war polnischer Offizier gewesen, sprach so gut deutsch wie französisch und erzählte uns, daß sie selbst Vertriebene waren. Hierzu muß man wissen daß im Zuge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 23.08.1939 in einem geheimen Zusatzprotokoll die Teilung Polens vereinbart worden war. Das ältere Ehepaar stammte aus den Gebieten, die der Russe daraufhin noch im Jahre 1939 annektiert hatte. Er besaß dort einen größeren Hof, den er aber beim Einmarsch der Russen verlassen mußte. Zusammen mit noch mehreren Landsleuten wurden sie inhaftiert und nach Kiew in ein Lager transportiert. Als die deutsche Wehrmacht sie 1941 dort befreite, waren sie hoch erfreut und den deutschen Landsern um den Hals gefallen. Umso weniger konnten diese Leute dann verstehen, was im Namen Deutscher mit den Polen später gemacht wurde. Wir wissen heute, daß vielleicht vieles damals anders abgelaufen wäre, wenn man die Polen und Russen menschlicher behandelt hätte. Doch will ich hierauf nicht weiter eingehen, sondern es damit bewenden lassen.
 
Die beiden Familien zogen nun in der oberen Etage ein, dort, wo zuvor der russische Inspektor gewohnt hatte. Von den Räumen im Erdgeschoß beanspruchten sie nur ein Zimmer von uns. Sie hatten zwei Pferde, zwei Kühe, zwei Rinder, vier Schweine und noch etwas Federvieh mitgebracht. Wir waren sehr froh, daß wir so ordentliche Leute bekommen hatten, denn in anderen Ortschaften war es schon zu bösen Auseinandersetzungen gekommen, als die neuen Besitzer eingezogen waren. Wir halfen ihnen, sich einzurichten, so gut wir konnten und auch beim Säen des Weizens ging ich ihnen etwas zur Hand. Wir gaben ihnen die kleinen Geräte, die man noch so versteckt hatte. Dafür erhielten wir von ihnen das, was wir zum Leben brauchten und man glaubt nicht, was das bedeutet, wenn man selber nichts mehr hat.
 
Der alte Pole hatte uns bei ihrer Ankunft erzählt, daß wir bald mit der Ausweisung rechnen müßten und darauf warteten wir nun. Dadurch, daß wir vorgewarnt waren, konnten wir die anderen noch hiergebliebenen Deutschen ebenfalls darauf vorbereiten und schon das Nötigste zusammenpacken, denn in der Vergangenheit war es so gewesen, daß man erst zwei Tage vorher Bescheid bekam. Diesmal aber setzte man uns bereits eine Woche vor unserer Ausweisung davon in Kenntnis. Am 14.12.1946 sollte es losgehen. Gleichzeitig gab man uns Gelegenheit, im Brieger Gefängnis von meinem Vater Abschied zu nehmen. Es war für uns alle nicht leicht, denn niemand wußte zu diesem Zeitpunkt, ob und wann wir uns wiedersehen würden. In dieser Woche trafen wir dann die letzten Vorbereitungen. Obwohl wir auf eine Art froh waren, hier herauszukommen, wurde der Abschied von unserem Hof und der Heimat doch sehr schwer, denn wir wußten natürlich, daß es diesmal auf nimmer wiedersehen hieß.
 
In die Ostzone
 
Alle Deutschen, die noch übrig geblieben waren, mußten sich am 14.12.1946 um 08:00 Uhr mit Gepäck auf dem Kirchplatz von Pampitz versammeln. Wie schon bei der ersten Flucht, war es auch diesmal wieder kalt und lag Schnee. Mit polnischen Panjewagen wurden wir dann bis Kraftborn bei Breslau gefahren. Dort befand sich ein ehemaliges Ausländerlager, in dem nun alle Deutschen aus der weiteren Umgehung für einen Bahntransport gesammelt wurden. Wir nahmen nun von dem alten Polen Abschied, der uns bis hierher gefahren hatte. Nie hätte ich zu diesem Zeitpunkt daran gedacht, ihn schon bald wiederzusehen.
 
Die Baracken, auf die immer 35 Personen zugeteilt wurden waren kalt. Zwar stand ein Ofen darin doch war weder Holz noch Kohle vorhanden. Das Lager war sehr groß und da schon einige Baracken halb abgerissen waren, konnten wir uns von dort Holz für die Öfen holen. So gab es für uns Jungen gleich am ersten Abend gut zu tun. Sehr schlimm war es im Lager für Mütter mit Kindern und ältere Leute. Die Verpflegung war miserabel und ich kann sagen, daß wir noch nie so gehungert hatten, wie in diesen Tagen. Jedermann hoffte, daß bald der Zug kommen würde mit dem wir abtransportiert werden sollten. Der Gleisanschluß lag ungefähr einen Kilometer außerhalb des Lagers. Jedem Raum wurde ein Waggon zugedacht und eine entsprechende Waggonnummer zugewiesen. Der Raum in dem wir uns befanden, hatte die Waggonnummer 15 erhalten.
 
Die Tage im Lager vergingen, ohne daß wir etwas von einem Abtransport hörten. Jeden Tag kamen neue Deutsche aus den umliegenden Dörfern hinzu. Als wir uns am 23.12. immer noch im Lager befanden und ein Abtransport auch bis auf weiteres nicht in Aussicht war, beschlossen drei andere Jungen aus Pampitz und ich sowie einer aus unserem Nachbarort Schüsselndorf, zum polnischen Lagerkommandanten zu gehen, um von ihm die Erlaubnis zu bekommen, noch einmal nach Hause fahren zu dürfen. Wir alle hatten in unsere Häuser gute Polen bekommen, von denen wir etwas Verpflegung haben wollten. Der Kommandant schrieb auch einen Schein für uns fünf aus. So konnten wir am Morgen des 24.12. losfahren.
 
Wir mußten erst noch ein ganzes Stück laufen, bis wir eine Bahnstation erreichten. Ein paar Sloti für die Bahnkarte hatte jeder noch und so ging es noch einmal in Richtung Brieg. Dort angekommen stellten wir zunächst fest, wann am nächsten Tag ein Zug nach Breslau fahren würde und verabredeten uns mit dem Schüsselndorfer Jungen, der übrigens Hans Schönwolf hieß; für den nächsten Tag zur Abfahrtszeit des Zuges an gleicher Stelle. Dann gingen wir anderen vier nach Pampitz und er mit der Bescheinigung, die für uns alle galt, in Richtung Schüsselndorf. Es war Nachmittag, als ich nochmal zu Hause ankam. Die Polen wunderten sich natürlich sehr darüber, wo ich jetzt noch herkam. Zudem war ja auch Heiligabend. Ich erzählte ihnen, was wir in den letzten zehn Tagen alles durchgemacht hatten. Sie baten mich ins Haus und so verbrachte ich den Heiligabend unter mir doch fremden Menschen. Der Weihnachtsbaum stand in derselben Ecke wie zu unserer Zeit und während sich das kleine Kind des jüngeren Ehepaares über den schön geschmückten Baum freute, mußte ich an meine Familie denken, die diesen Tag völlig auseinandergerissen verlebte und konnte meine Tränen nicht verbergen.
 
Am nächsten Morgen wurde für mich allerlei zusammengepackt. Mit zwei gefüllten Taschen und noch etwas Verpflegung in meinem Rucksack traf ich mich mit den drei anderen Jungen. Unser Pole fuhr uns dann in einem Panjewagen bis kurz vor Brieg. Ich bedankte mich noch einmal sehr herzlich bei ihm und wir nahmen nun endgültig Abschied voneinander. Die restliche Strecke bis zum Bahnhof gingen wir zu Fuß und waren verhältnismäßig früh im Warteraum.
 
Es dauerte nicht lange, bis die anderen Reisenden gemerkt hatten, daß wir Deutsche waren. Deutschen aber war der Aufenthalt im Warteraum nicht gestattet, was wir allerdings nicht wußten. So kam auch bald die Miliz vorbei und verlangte, unsere Papiere vorzuzeigen. Nur mit was sollten wir uns ausweisen? Einen polnischen Ausweis hatten wir nie besessen. Immer wieder ging unser Blick zur Eingangstür, durch die der Schüsselndorfer bald kommen müßte. Er hatte ja das Schriftstück des polnischen Lagerkommandanten, das sicherlich ausgereicht hätte. Doch Hans Schönwolf kam und kam nicht. In meiner Verzweiflung fiel mir mein Freischwimmerausweis ein, den ich bei mir hatte. Ich hatte ihn 1939 erhalten und er war von unserem damaligen Lehrer Klunke unterschrieben. Ob die Miliz ihn überhaupt lesen konnte, weiß ich nicht, jedenfalls konnte ich gehen, während die anderen nun zur Wache mitgehen sollten. Ich begleitete sie und als wir das Bahnhofsgebäude gerade verlassen wollten, kam der Hans endlich. Er gab das Papier heraus und nach Einsichtnahme durch die Miliz ließ man uns gehen. Es wurde auch höchste Zeit, denn der Zug war schon eingetroffen. Per Lok ging es nun nach Breslau. Dort angekommen gingen wir schwer bepackt bis zum Lager, wo die Freude über unser Eintreffen natürlich groß war.
 
Am nächsten Tag, also am 26.12. gab man uns auf, mit dem gesamten Gepäck, daß wir noch besaßen, zu dem ungefähr einen Kilometer vom Lager entfernten Gleis zu gehen und uns dort waggonweise aufzustellen. Dort warteten wir den ganzen zweiten Weihnachtstag, bis es dunkel wurde. Dann hieß es, der Zug würde heute nicht mehr kommen, sondern erst am nächsten Tag. Alle Frauen, Kinder und die älteren Leute sollten wieder ins Lager zurück. Die Männer und Jungen hatten Wache zu stehen, da das Gepäck stehengelassen werden sollte.
 
Aus den in der Umgebung kaputt geschossenen Häusern suchten wir uns Holz zusammen und machten uns im Schnee ein Feuer. Bald sah man eine Feuerkette entlang der Bahngleise, denn es waren ja ca. 30 Waggonbesatzungen, die hier warten mußten. Gegen Mitternacht wurden wir durch eine Detonation und laute Schreie aufgeschreckt. Die Detonation war ungefähr 150 Meter von uns entfernt erfolgt. Als wir hingelaufen waren, sahen wir zwei Tote und drei verletzte Männer und Jugendliche daliegen. Wie sich später herausstellte, hatten sie unbewußt ein Feuer auf einer Mine oder einem Blindgänger errichtet und dies zur Zündung gebracht. Die Toten und Verletzten wurden dann sogleich ins Lager zurückgeschafft. Da sie aus einem anderen Ort stammten, weiß ich nicht, was aus ihnen geworden ist.
 
Auch am nächsten Tag kam auch kein Zug und wir mußten noch eine Nacht im Freien verbringen. Gegen Mittag des 28. Dezember wurden dann endlich die Waggons eingeschoben. Es handelte sich um lauter Viehwaggons, die natürlich auch nicht beheizt waren. Die Frauen und Kinder durften nun auch das Lager verlassen und halfen mit beim Einladen. Da die Lokomotive wieder weggefahren war, konnten wir uns dabei Zeit lassen.
 
Ein Waggon war für 35 Personen und deren Gepäck vorgesehen. In dem uns zugeteilten Waggon befand sich im Dach ein rundes Loch für ein Ofenrohr. Nun hatten wir in den letzten beiden Tagen, in denen wir auf den Zug gewartet hatten, ein bißchen in den naheliegenden und zerstörten Häusern herumgestöbert und dabei auch einen kleinen Ofen entdeckt. Also machten wir uns auf, ihn heranzuschaffen und sammelten bei dieser Gelegenheit gleich noch Holz zur Feuerung. Lediglich das Ofenrohr war nicht lang genug. Es ragte zwar gerade noch aus dem Loch in der Decke heraus, doch fehlte uns ein Knickstück, das wir in Fahrtrichtung hätten drehen können.
 
Zunächst einmal war die Freude groß, als wir den Ofen das erste mal geheizt hatten und es ein bißchen wärmer in unserem Wagen wurde. Doch kam die Enttäuschung schon wenige Zeit später, als unsere Fahrt gen Westen endlich begonnen hatte. Gegen Mittag des nächsten Tages kam dann die Lokomotive die uns von hier wegbringen sollte. Die Zeit bis dahin hatten wir genutzt, um noch allerhand Holz für den Ofen heranzuschaffen. Wir hatten wohl als einzige das Glück im Besitz eines Ofens zu sein. Es war der 29. als der Pfiff des Bahnwärters ertönte und der Zug sich langsam in Bewegung setzte. Schon bald nachdem der Zug mehr Fahrt aufgenommen hatte, mußten wir feststellen, daß wir mit unserer Wärmequelle nicht die optimale Lösung gefunden hatten. Da das Rohr nicht weit genug aus dem Dach herausragte und uns ein Knickstück als Abschluß fehlte, drückte der Fahrtwind den Rauch in die verkehrte Richtung und der Ofen rauchte immer mehr. Ob wir wollten oder nicht mußten wir uns des Ofens entledigen. Wir rissen die Schiebetür des Waggons auf und warfen ihn, noch während er brannte, bei voller Fahrt hinaus. Für allzu schlimm empfanden wir diesen Verlust nicht, da wir davon ausgingen, daß es nicht lange dauern würde, bis wir in der Ostzone ankommen würden, obwohl wir nicht genau wußten, wohin unsere Reise eigentlich ging. Doch wir hatten damit weit gefehlt.
 
Unsere Fahrt ging von Kraftborn bis Niederoderwitz bei Zittau. Es war am Nachmittag des 31.12. als wir in der ehemaligen Schokoladenfabrik in Niederoderwitz vollkommen durchfroren und ausgehungert ankamen. Unsere Waggons wurden immer wieder auf ein Abstellgleis gefahren; die Lok wurde zu anderen Zwecken benötigt und deshalb abgezogen. An Verpflegung bekam ein jeder eine Tasse trockener Erbsen, die wir lutschten. Um Wasser mußte man sich selbst kümmern, und so versuchten wir immer dort, wo man unsere Waggons gerade hin geschoben hatte, etwas davon aufzutreiben. Aufgrund dieser Situation wird man sich vorstellen können, daß unter uns eine nervöse und gereizte Stimmung herrschte. Hinzu kam, daß sich in unserem Waggon ein Kleinkind befand, das von einem Russen stammte und das unter den miserablen Umständen die meiste Zeit schrie, so daß die Nerven der Mitfahrer noch mehr strapaziert und die bösesten Beschimpfungen gegen Mutter und Kind laut wurden. Etliche alte Menschen, die die Strapazen der letzten Tage nicht überlebt hatten, wurden so gut es ging in der Nähe der Gleisstrecke bestattet.
 
Es tat uns allen gut und wurde als unendliche Erleichterung empfunden, als man uns in die warmen Räume der Schokoladenfabrik ließ, wo wir uns aufwärmen und in Notbetten schlafen konnten. Die Fabrikräume waren allesamt als ein Quarantänelager für Aussiedler hergerichtet worden. Man hatte alle Maschinen demontiert und so war ausreichender Platz vorhanden. 14 Tage mußten wir hierbleiben und wurden in dieser Zeit entlaust und geimpft. Daran anschließend wurden wir nach Chemnitz verfrachtet, wobei wir allerdings in einem Personenwagen fahren durften, in dem man sich wieder als Mensch fühlen konnte. Die Fahrt nach Chemnitz muß uns wohl quer durch Dresden geführt haben, denn wir konnten unterwegs eine nicht zu endende Trümmerlandschaft betrachten. In Chemnitz angekommen, wurden wir wiederum in ein Lager verwiesen und dort verteilt. Wir hatten die Möglichkeit, Kontakt zu unseren Verwandten in Oberfrohnau aufzunehmen, die uns dann aus dem Lager abholten und bei sich aufnahmen, wenngleich sie selbst nur wenig Platz zum Wohnen hatten. Auch war hier in Oberfrohnau der Hunger groß und Holz zum Feuern knapp. Die Menschen gingen einfach in den Wald und sägten die Bäume ab. Die Polizei konnte dagegen gar nichts ausrichten.
 
Um unseren Verwandten nicht länger zur Last zu fallen, aber auch um etwas Sinnvolles zu tun, suchte ich mir in der Umgebung Arbeit und fand endlich am 01. März 1947 bei einer Bäuerin in Wüstenbrand ein Unterkommen. Der Mann der Bäuerin war noch in Gefangenschaft. Sie lebte auf dem 60 Morgen großen Hof mit ihren zwei Töchtern und dem Altbauern. An Tieren hatten sie zwei Pferde, sieben Kühe mit Jungvieh und ein paar Schweine, sowie das nötige Federvieh. Meine Schwester hatte Arbeit in einem Haushalt gefunden und so waren wir fürs erste versorgt.
 
1947 war der Hunger sehr groß. Wir mußten aus der Runkelmiete Runkeln abliefern, die in den Geschäften als Gemüse verkauft wurden. Auch passierte es mir, daß Kinder aus der Umgebung mein Frühstück klauten, als ich auf dem Felde arbeitete und weit genug entfernt war, um mir meine Verpflegung zurückzuholen. Man kann es den Kindern im Nachhinein nicht verdenken, denn der Hunger treibt die Menschen halt zu Dingen, die zu machen sie unter normalen Umständen nicht imstande wären. Am Abend gab es immer Kartoffeln und Weichquark, da auch die Bauern selbst nicht mehr zum Essen hatten als die übrige Bevölkerung. Jeden Sonntag ging ich von Wüstenbrand nach Oberfrohna, wobei man mir immer Kartoffeln für meine Mutter und meine Oma mitgab.
 
Schon kurz nach unserer Ankunft in der Ostzone hatten wir mit dem Gedanken gespielt, in den Westen abzuhauen. Nun hatten wir von irgendwo her die Adresse unseres Nachbarn in Schönbrunn, Herrn Scheiber, erhalten. Er wohnte in Osterode, wo sein Bruder als Bankdirektor arbeitete und der vielen Osterodern bekannt war. So faßten wir den Entschluß, uns mit Herrn Scheiber in Verbindung zu setzen. Wir setzten einen Brief auf, in dem wir unsere jetzige Situation schilderten und fragten an, ob er für uns Arbeit und eine Unterkunft besorgen könnte. Es dauerte nicht lange, bis wir auf unseren Brief eine positive Antwort erhielten, woraufhin meine Schwester und ich unsere Stellungen kündigten. Da meiner Oma zur Zeit keine weiteren Reisestrapazen zuzumuten waren, bereiteten nur meine Schwester und ich die Reise in den Westen vor. Am 15. Juni 1947 war es dann soweit. Die letzte Etappe unserer langen Reise begann.
 
In den Westen nach Förste
 
Man darf sich unsere Ausreise nun allerdings nicht so leicht vorstellen, wie es nach heutigen Maßstäben gemessen wohl leicht den Anschein haben könnte. Gut zwei Jahre nach Kriegsende herrschte natürlich noch ein gewisses Chaos, hervorgerufen durch den Wiederaufbau der öffentlichen Ordnung und den notwendig gewordenen Aufräumarbeiten. Hinzu kam der noch nicht nachlassende Strom der Flüchtlinge. Um dem Chaos Herr zu werden, waren in der Ostzone seitens der öffentlichen Hand restriktive Maßnahmen angesagt. Alles mußte registriert werden und fast alles war genehmigungspflichtig. So mußten auch diejenigen, die eine Reise über 30 km unternehmen wollten, hierfür eine Genehmigung einholen. Wir gaben deshalb an, in Nordhausen einen Onkel zu haben, was man uns ohne weiteres glaubte und die Genehmigung erteilte. Von Nordhausen aus lösten wir Fahrkarten bis nach Ellrich. Die Entfernung von Nordhausen bis nach Ellrich belief sich auf weniger als 30 Kilometer und war somit genehmigungsfrei.
 
In Ellrich verlief dann alles problemlos. So wie die Menschen aus den überfüllten Zügen ausstiegen, ging man sofort weiter über die Grenze, die die Ostzone von der Westzone trennte, bis nach Walkeried. Zollbeamte oder Polizisten hatte ich an der Grenze nicht gesehen. Mit dem letzten Zug, der nach Osterode fuhr, kamen wir nicht mehr mit, und so schliefen wir die Nacht über vor dem Bahnhof. Am nächsten Tag aber hatten wir mehr Glück und erreichten müde aber glücklich Osterode. Die Scheibers wohnten zur damaligen Zeit in der sogenannten “Mordvilla”, der heutigen Kreissparkasse. Hier gab man uns zunächst Gelegenheit, uns zu waschen und richtig auszuschlafen. Unser ehemaliger Nachbar hatte meiner Schwester und mir Arbeit auf dem Bauernhof und Lehrhof des August Binnewies in Förste verschafft. Gleich am nächsten Tag machten wir uns wiederum per Bahn auf den Weg dorthin. Als wir mit der Kleinbahn an den Katzensteiner Klippen vorbeifuhren, dachte ich, wir wären am Ende der Welt angekommen.
 
Mit Herrn Binnewies, dessen Hof 120 Morgen groß war, schloß ich einen Lehrvertrag. Meine Schwester arbeitete im Haushalt. Wir teilten unserer Mutter mit, wo wir uns im Westen aufhielten. Nachdem sie unsere Oma in einem Altersheim unterbringen konnte, kam sie im Februar 1948 nach. Da sie aber wegen Platzmangels nicht in Förste bleiben konnte, fuhr sie nach Rheda in Westfalen weiter, wo sich unsere Pampitzer angesiedelt hatten. Sie fand dort auch ein Unterkommen und bald darauf zog auch meine Schwester dorthin. Ich blieb in Förste, da ich wegen des geschlossenen Lehrvertrags gebunden war und beendete meine Lehre auf dem Hof des Herrn Binnewies.
 
Während dieser Zeit habe ich dreimal an dem traditionellen Kranzreiten in Förste teilgenommen. Als ich im Jahr 1949 den Kranz erritten hatte, wollte man mir den Sieg nicht zusprechen, da ich ein Flüchtling war. Dies zeigt, wie man damals über die Deutschen aus den Ostgebieten dachte und daß auch wir Schwierigkeiten hatten, in der neuen Umgebung Fuß zu fassen.
 
Mein Lehrherr Binnewies war seinerzeit Vormund über den Hof des August Lüllemann in Eisdorf, der aber schon seit längerer Zeit einzeln verpachtet war. Dieser Hof zählte zu den sogenannten Wüstenhöfen, auf denen man bemüht war, Flüchtlingsbauern anzusiedeln. Und so hatte mir Herr Binnewies oftmals angeraten, den Hof in Eisdorf zu pachten, wenn mein Vater in den Westen nachgekommen sei. Glücklicherweise war es uns möglich gewesen mit unserem Vater in Briefwechsel zu treten. Im Herbst 1948 wurde er aus der Haft entlassen und mußte noch bis Oktober 1950 auf der Domäne in unserem damaligen Nachbardorf Schönfeld arbeiten. Er schrieb uns, daß er alle zwei Wochen zu unserem Hof gehen würde und sich von dem nun dort ansässigen Polen etwas zu Essen holen könnte. Im November 1950 kehrte mein Vater wieder zu meiner Mutter in Rheda zurück. Dort war die Wiedersehensfreude natürlich riesengroß und sogar der Posaunenchor spielte ein Ständchen. Nun, da wir alle wieder zusammen waren, stellte sich bald die Frage, wie wir unser „neues Leben“ gestalten sollten.
 
Eisdorf als neue Heimat
 
Meine Mutter und meine Schwester arbeiteten in einer Fabrik in Rheda, hatten also eine gute Arbeitsstelle hier in Westfalen gefunden. Wir alle wollten aber gern weiter in der Landwirtschaft sein und so wurde überlegt, ob wir auf das Angebot meines Lehrherren zurückkommen sollten. Wir beschlossen, uns den Hof in Eisdorf einmal anzusehen. Zu dem Hof gehörten 88 Morgen Land. Die Gebäude waren zwar sehr veraltet und in nicht all zu gutem Zustand, doch das dazugehörige Land konnte man als gut bezeichnen, und so faßten wir den Entschluß, uns in Eisdorf niederzulassen. Meine Eltern und meine Schwester konnten schon am 10. Juni 1951 nach Eisdorf kommen.
 
Für den Aufbau unseres Hofes gewährte man uns einen Einrichtungskredit. Mein Vater kaufte erst einmal ein Pferd, zwei Kühe, zwei Rinder und zwei Ferkel. Den 42 Pächtern, die die zum Hof gehörenden Ländereien einzeln gepachtet hatten, war bereits gekündigt worden. Als ich am 08. September nach Eisdorf kam, wurde gleich noch ein Pferd und auch ein Venski-Pflug gekauft. Am 01. Oktober 1951 pachteten wir dann den Hof des August Lüllemann und hatten somit eine neue Heimat. Unsere erste Aufgabe bestand darin, die kleineren, im Rahmen der Pacht aufgeteilten Landstücke zu größeren zusammenzulegen, und zwar ohne Rücksicht auf die Fruchtfolge. Hinsichtlich der finanziellen Mittel war es eine karge Zeit, zumal wir ja nur Einkünfte aus den Milcheinnahmen unserer beiden Kühe hatten.
 
Im Winter ging ich zur Forstarbeit in den Eisdorfer Genossenschaftswald mit, um mir so etwas dazu zu verdienen. Im Jahre 1952 kauften wir, natürlich auf Kredit, einen Fella-Binder, ein Vielfachgerät und einen Düngerstreuer, so daß wir für das erste gut ausgerüstet waren. Die erste Ernte war nicht gerade die beste, da ja auch die Fruchtfolge nicht ganz stimmen konnte. Von dem Geld das die Ernte eingebracht hatte, wurde erst einmal Milchvieh und eine Zuchtsau gekauft. Allmählich ging es bergauf.
 
Als wir 1954 einen weiteren Kredit bekamen, wurde ein Traktor angeschafft. Es war ein 27-PS-Hannomag mit Mähwerk und dazu kauften wir noch einen 2-Schaar-Plug. Jetzt waren wir schon bedeutend wendiger und es wurde alles leichter. Da der Traktor nun die schwere Arbeit verrichtete, tauschten wir die schweren Pferde gegen ein paar leichte Ostfriesen ein. Auf unserem Land bauten wir acht Morgen Zuckerrüben, zwei Morgen Runkeln, drei Morgen Kartoffeln und etwa 50 Morgen Getreide an; der Rest war Grünland. Als dann bald noch ein 3-Tonnen-Brunskipper und ein 3-Tonnen-Welger Miststreuer gekauft wurde, von den anderen kleinen Maschinen gar nicht zu reden, waren wir wieder ein Stück weiter. Unser Kuhbestand hatte sich auf 14 Kühe aufgestockt; mit den Kälbern, Mastbullen und Rindern hatten wir manchmal 40 Stück Vieh im Stall. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, daß wir von allen Eisdorfern, es sei durch Maschinen, oder durch menschliche Hilfe, bei unserem Aufbau immer sehr gut unterstützt worden sind. Wir hätten damals den Hof gern käuflich erworben, aber es ging leider nicht. Die Gründe, woran der Kauf scheiterte, zu schildern, würde zu weit führen.
 
1957 heiratete ich Marianne Brakebusch, die auf dem Nachbarhof wohnte. Aus unserer Ehe sind drei Kinder hervorgegangen. 1957 wurde unser Sohn Wolfgang und 1962 unser Sohn Martin geboren. Als dann 1964 unsere Tochter Katrin auf die Welt kam, war unsere Familie komplett. So, wie sich unsere Familie erweitert hatte, erweiterte sich auch unser Eigentum. Im Jahr 1964 kauften wir zusammen mit meinem Schwiegervater einen gebrauchten Lanz MD I8 Mähdrescher. Er hatte zwar eine Presse, aber noch keinen Korntank, so daß noch alles abgesackt werden mußte.
 
Vierzehn Jahre nachdem mein Vater den Hof gepachtet hatte, übernahm ich am 01. Oktober 1965 die Pachtung. Es begann nicht gerade gut, denn gleich in dem darauf folgenden Winter erlag eines unserer Pferde einem Herzschlag. Eigentlich wollte ich gleich ein neues Pferd kaufen, aber sie waren einfach zu teuer geworden. Stattdessen entschloß ich mich im Frühjahr 1966 einen Trecker zu kaufen. Es handelte sich hierbei um einen gebrauchten Ford mit 36 PS. Dazu gehörten ein Pflug, Zwillingsräder, ein Frontlader mit Mist- und Allzweckgabel. Das noch verbliebene zweite Pferd verkaufte ich und fortan wurde nur noch mit den zwei Treckern gearbeitet. Mein Schwiegervater und ich kauften uns noch gemeinsam eine Hochdruckpresse, die AP 40 und so waren wir mit Maschinen recht gut ausgerüstet. 1969 zogen meine Eltern aus. Inzwischen hatte auch mein Schwager den Hof seines Vaters übernommen. Wir ergänzten uns noch beim Kauf verschiedener Maschinen und arbeiteten sehr viel gemeinsam. Es lief eigentlich alles bestens. 1972 begannen wir mit dem Bau unseres Hauses in dem Eisdorfer Neubaugebiet „In den Lägern“ und zogen dort ein Jahr später ein. Den Hof bewirtschafteten wir noch weiter und lebten somit praktisch zur Hälfte auf dem Hof und in unserem neuen Heim.
 
1974 starb mein Vater und im Herbst desselben Jahres wurde mir der Pachtvertrag gekündigt, da der neue Eigentümer, der alles geerbt hatte die Ländereien sämtlich verkaufen wollte. Da der Kauf des Hofes jetzt für uns aus verschiedenen Gründen nicht mehr angebracht war, gaben wir die Landwirtschaft auf und verkauften alles tote und lebende Inventar. Ich konnte damals bei der Firma Rinne in Osterode Arbeit finden, bewarb mich dann aber bald bei der Bundeswehr als Zivilarbeiter, wo ich auch heute, 1983, noch bin. Meine Schwester arbeitete im Krankenhaus Osterode und lebt heute als Rentnerin in einer Eigentumswohnung in Osterrode. Meine Mutter ist 1981, einen Tag vor ihrem 84. Geburtstag, in meinem Haus von ihren Leiden erlöst worden. Beide Eltern liegen auf dem Eisdorfer Friedhof begraben.
 
Möge meinen Nachfahren das hier Geschilderte erspart bleiben. Ich denke immer an meinen Vater, der trotz allem Erlebten sagte: „Zufriedenheit macht reich!“